Der Autor:
Prof. Dr. Karl Aiginger
ist Leiter des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitutes.
KURZFASSUNG
Einleitung
Europa steht im Banne der Budgetkonsolidierung und verschärft die fiskalischen Regeln. Es konnte nicht verhindern, dass 2012 eine Rezession eingetreten ist und die Schulden weiter steigen. Gleichzeitig steigen die Arbeitslosigkeit und die sozialen Unterschiede. Die Sozialpolitik liegt großteils in nationaler Kompetenz, wird aber dennoch immer stärker von europäischen Regeln geprägt und steht vor großen Herausforderungen. Neue Aufgaben können nicht mehr durch zusätzliche Steuern finanziert werden, da die Staatsausgaben schon bei 50 % der Wirtschaftsleistung liegen und schon heute nicht voll durch Einnahmen gedeckt sind. Neue Aufgaben sind nur dann zu bewältigen, wenn die Probleme frühzeitig erkannt oder das Auftreten von Problemen verhindert wird, so z.B. durch Bildungspolitik oder Gesundheitsprävention, bevor die Kosten von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflege anfallen. Zukunftsinvestitionen und Jugendbeschäftigung entscheiden über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sowie über die Akzeptanz des europäischen Modells, v.a. bei der Jugend. Der derzeitige europäische Wachstumspfad ist sozial unausgewogen und mit weiter steigendem Ressourcenverbrauch verbunden. Eine moderne Sozialpolitik ist keine isolierte Teilpolitik, sondern mit Bildungs- und Innovationspolitik vernetzt und immer stärker international. Um einerseits neue soziale Probleme auch in einer Phase der Budgetkonsolidierung aktiv anzusprechen und andererseits ihre Kosten einzuschränken, wäre auf europäischer Ebene ein Sozialpakt in Ergänzung des Fiskalpaktes sinnvoll.
Fiskalische Integration ist notwendig
Fiskalische Integration ist für die erfolgreiche Entwicklung Europas notwendig. Erstens kann es nur eine gemeinsame Währungspolitik geben, wenn nicht permanente Störungen durch Budget-Ungleichgewichte und spekulative Blasenbildungen auftreten. Zweitens ist die Geldpolitik wirksamer, wenn sie auch durch Fiskalpolitik unterstützt wird (z.B. in der Gegensteuerung gegen Krisen). Drittens kann die Fiskalpolitik verglichen mit der Geldpolitik breitere gesellschaftliche Ziele und Prioritäten verfolgen (nicht nur Preisstabilität).
Allerdings ist Europa weit von einer „Fiskalunion“ entfernt: Im Endausbau einer Fiskalunion werden drei Entscheidungen auf Gemeinschaftebene getroffen: die Entscheidungen über den staatlichen Aufgabenumfang (Staatsfunktionen), über Staatsausgaben und über Staatseinnahmen. Bisher werden primär nur Budgetaggregate und -salden kontrolliert (Defizite, Schuldenquoten). Die Steuerstruktur liegt prinzipiell in der Kompetenz der Mitgliedsländer. Für staatliche Defizite und Schulden gibt es spätestens seit den Maastricht-Kriterien verbindliche Regeln (Obergrenzen).
Nach der Finanzkrise wurde das Regelwerk enger geknüpft. Die Überwachung nationaler Haushalte wurde verstärkt (Sixpack). Der Fiskalpakt setzt engere Grenzen für Defizite und schreibt auch den Abbau der Schulden vor. Die Nichterfüllung der Aktivziele der Europa-2020-Strategie bleibt von der Gesetzeslage ohne Sanktionen. Wie schon die ersten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Europäischen Kommission im Rahmen der „Europäischen Semester“ zeigen, bleibt auch in der Ausführung die restriktive Komponente absolut dominierend; die Nichteinhaltung der Aktivziele wird als selbstverständliches Opfer der notwendigen Konsolidierung betrachtet, die Verletzung von Zielen bei Forschung, Beschäftigung und Armutsreduktion wird nicht eingemahnt.
Europa-2020-Strategie: Integratives Wachstum
Der Stellenwert sozialer Ziele wird in der Europa-2020-Strategie unterstrichen und ausgebaut. Neben den Zielen eines intelligenten und nachhaltigen Wachstums wird gleichberechtigt das Ziel eines „integrativen Wachstums“ definiert. Zur Erreichung dieses Zieles entwickelt die EU ein Indikatorensystem, zu dem auch erstmals die Zielsetzung der Verringerung der Armut um 20 Millionen Personen bis 2020 formuliert wird. Österreich hat z.B. als „Armutsziel“ für 2020 angegeben, die Zahl der „Ausgrenzungsgefährdeten“ um 235.000 Personen oder 17 % der Bevölkerung zu verringern (von derzeit 1,4 Millionen).
Der Fortschritt bei der Erreichung sozialer Ziele wird im „Europäischen Semester“ mit beurteilt. Derzeit werden aber alle Ziele hinter der Konsolidierung der Budgets zurückgestellt und finden daher in den wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Kommission kaum Beachtung. Eine leichte Verlagerung der Zielsetzung der Wirtschaftspolitik in Richtung stärkerer Betonung von Wachstum und Beschäftigung ist seit dem Juni-Gipfel 2012 der Staatschefs und seit dem Leitungswechsel im Währungsfonds zu erkennen.
Schuldenbremse durch Sozialvertrag ergänzen
Die Finanzkrise hatte zwar nicht in Europa ihren Ausgangspunkt, hat aber Europa stärker getroffen. Die Produktion liegt im Gegensatz zu den USA auch 2012 noch unter dem Vorkrisenwert; die Arbeitslosigkeit ist zweistellig und angesichts der leicht sinkenden Wirtschaftsleistung in Europa steigend. Die hohe Arbeitslosigkeit führte dazu, neben dem Fiscal Compact einen Social Compact ins Auge zu fassen. Ein Sozialkontrakt scheint jedoch verglichen mit den Vereinbarungen zur fiskalischen Konsolidierung keine Priorität zu haben und er ist nur in Ansätzen diskutiert, während die Schuldenbremsen verpflichtend sind.
Heterogenität der Europäischen Sozialmodelle
Die europäische Sozialpolitik ist durch ein Nebeneinander von verschiedenen nationalen Sozialmodellen gekennzeichnet. Eine Einteilung in ein nordisches, ein mitteleuropäisches (kontinentales), ein angelsächsisches und ein südeuropäisches Modell ist sinnvoll. Das nordische Modell hat beachtliche Vorteile, insofern als es fiskalische Stabilität mit starken Anreizen zur Ausbildung und Weiterbildung und einem hohen Niveau der sozialen Sicherung verbindet und zumindest in der dänischen und niederländischen Variante Flexibilität von Firmen mit individuellem Schutz bei Arbeitslosigkeit verknüpft. Im skandinavischen Modell ist eine hohe Priorität der Ausgaben für die Ausbildung und für den Ausgleich der Startchancen der Jugend gegeben, und die Last durch Pensionen, Gesundheit und Staatschulden wird begrenzt. Allerdings konnten die Länder mit dem Skandinavischen Modell eine relativ hohe Arbeitslosigkeit und besonders eine hohe Jugendarbeitslosigkeit auch nicht verhindern. Vom angelsächsischen Modell werden vermehrt Elemente der „in work benefits“ und die Bindung der Sozialleistungen an Bedingungen (Bedürftigkeit, Arbeitswilligkeit) übernommen.
Das kontinentaleuropäische Modell schützt besser vor Entlassungen und wurde in den letzten Jahren durch Kurzarbeit, flexible Kontrakte auf Firmenebene und Anstrengungen zur Wiederaufnahme der Arbeit ergänzt. Das kontinentale Modell enthält allerdings erhebliche Senioritätselemente, die den Wiedereinstieg in die Arbeit (nach Kündigung) oder die Gendergleichheit (nach Berufsunterbrechung) behindern.
Generell zeigt sich, dass die Sozialpolitik seit 1990 beschäftigungsorientierter wurde und stärker die Arbeitsfähigkeit in den Vordergrund stellte (das Sozialsystem als „Produktivkraft“). Sowohl die anhaltende und verstärkte Alterung als auch das hohe Maß der Migration machen es wahrscheinlich, dass diese beiden Trends fortgesetzt werden.
Stabilität der Sozialausgaben trotz Konsolidierung
Die Sozialausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung liegen in Europa 2009 bei 30 % des Bruttoinlandsproduktes (28,4 % für EU 27 und 29,1 % für EU 15). Es gibt keinen Trend zur Abnahme, eher liegt ihr Anteil um 2 bis 3 Prozentpunkte höher als 2000 (in einem einzigen der EU 27-Mitglieder nämlich der Slowakei liegt sie 2009 geringfügig niedriger als 2000). Der größte Teil der Sozialausgaben sind Pensionsausgaben (11 % des BIP) und Gesundheitsausgaben (8 % bis 9 % des BIP); beide zusammen erreichen zwei Drittel der Sozialausgaben. Ausgaben für Arbeitslosigkeit erreichen weniger als 2 % des BIP, jene für aktive Arbeitsmarktpolitik sind noch niedriger. Familienausgaben betragen 2 % bis 3 % der Wirtschaftsleistung, auch mit geringfügig steigendem Trend.
Die bisherigen Daten zeigen also für Europa insgesamt relativ zur Wirtschaftsleistung keinen Sozialabbau vor, während und nach der Krise. Die Budgetkonsolidierung hat erst in den letzten Jahren begonnen. Die meisten Konsolidierungsprogramme sehen Kürzungen vor, die einen weiteren Anstieg der staatlichen „Pensionslast“ begrenzen. Eine gewisse Balance ist insofern gegeben, als es längere Übergänge gibt und der Druck auf höhere Pensionen stärker ist. In der Krise hat die antizyklische Wirkung z.B. der Ausgaben für Arbeitslosigkeit den Anstieg von Armut und den Ausfall von Konsumnachfrage zweifelsohne gemildert.
Rat- und Planlosigkeit in Krisenländern
Generell fehlt in den Konsolidierungsstrategien in den Krisenländern eine proaktive Komponente zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Firmengründungen, Innovationsparks oder Industriezonen. Die Nutzung der Chancen durch neue Technologien etwa im Umwelt- und Energiebereich werden ebenfalls vernachlässigt. Die verschärften sozialen Probleme können mit Sozialpolitik nicht abgefangen werden. Die Konsolidierung wird als von außen (Finanzmärkte, Troika) aufgezwungen betrachtet, nicht als Chance für die Neugestaltung. Die Reformen sind auch unsensibel bezüglich ihrer Lastenverteilung und visionslos.
Problemlösungskapazität des Sozialsystems und neue Risken
Drei strategische Probleme kennzeichnen heute die Sozialpolitik. Erstens die Budgetgrenze, zweitens die Tendenz, dass passive Ausgaben eine hohe Wachstumsdynamik aufweisen, und drittens, dass es neue Aufgaben und Herausforderungen gibt.
Budgetgrenze
Die Grenzen der Sozialpolitik in einer Periode der Budgetkonsolidierung liegen in den meisten europäischen Ländern (abgesehen von der südlichen Peripherie) darin, dass
- erstens der Anteil der Sozialausgaben bei einer Staatsquote von fast 50 % nicht mehr leicht erhöht werden kann, ohne andere Ausgaben zu reduzieren,
- zweitens Europa die höchste Abgabenquote aller Regionen hat und
- drittens die Budgetdefizite zumindest mittelfristig abgebaut werden sollen.
Dominanz der passiven Ausgaben
Eine weitere Problematik besteht darin, dass innerhalb der Sozialausgaben die Tendenz besteht, dass passive Ausgabenkategorien (z.B. Ausgaben für Arbeitslosigkeit und Alter) die Tendenz haben zu wachsen und für neue Herausforderungen wenig Instrumente und noch weniger Geld verfügbar ist. Alter, Krankheit (inkl. Ausgaben für Hinterbliebene und Invalidität) erreichen 2009 in der EU 27 23,4 % des BIP bei Gesamtausgaben von 28,4 %.
Neue Herausforderungen
sind Risiken durch neue Familienstrukturen, neue Mobilität zwischen Berufen und Ländern, zwischen Phasen der Erwerbstätigkeit und Unterbrechungen, der hohe Anteil Unqualifizierter bei gleichzeitig starker Nachfrage nach Qualifikation, das Problem des Auseinanderdriftens der Löhne für Niedrigqualifizierte und für Spezialisten im Mangelberufen, das Problem Jugendarbeitslosigkeit, Genderungleichheit, anhaltende Vererbung von Bildungschancen und mangelnde Integration von Migranten und die Unfähigkeit des Schulsystems, Basisfähigkeiten in zehn Jahren Schulbesuch lückenlos zu vermitteln.
Systemische Sozialpolitik ist mit anderen Politikzweigen verbunden
In vielen Bereichen ist aber Sozialpolitik im engeren Sinn überfordert. Und es ist für alle Herausforderungen billiger, fehlende Qualifikationen der Erwerbsbevölkerung zu bekämpfen als ihre Folgen abzumildern. Und es ist sinnvoller, berufliche Mobilität und das Weiterlernen zu fördern, als die Folgen fehlender Qualifikation und geringer Mobilität zu finanzieren. Es ist billiger, Krankheiten durch Änderung der Lebensgewohnheiten zu verhindern als sie nachträglich zu heilen. In beiden Fällen ist Österreich kein Musterland, deshalb beziehen sich die folgenden Überlegungen besonders auf Österreich.
Die Sicherungssysteme sind u.a. in Österreich zu sehr am Standard des Vollzeitarbeitsplatzes orientiert bzw. in einer Firma und an einem Ort. Vollzeitarbeitsplätze und eine Vertragsdauer, die auch betriebliche Investitionen in die Weiterbildung sinnvoll machen, können und sollen ein wirtschaftspolitisches Ziel bleiben, aber es wird daneben auch eine Realität von Teilzeitarbeit und raschem Wechsel geben.
Das Bildungssystem ist durch große Unterschiede in den Kenntnissen bei Schuleintritt gekennzeichnet. Die erste Schulstufe ist überfordert und kann sie nicht ausgleichen. Dann erfolgt im österreichischen System eine frühe Trennung in Schultypen. Auch die derzeitig schon verfügbaren Ganztagsschulen oder neuen Mittelschulen können wenig qualifizierte Schüler nicht an den Durchschnitt heranführen, aber auch Begabte nicht fördern (PISA-Ergebnisse 2009). Die Vorgaben durch Bildungsziele sind ungenügend, noch mehr die Kontrolle und Transparenz. Schulen sind nicht autonom, sondern werden in Österreich als Verwaltungseinheiten bürokratisch geführt und vermitteln keine Freude am Lernen.
Im Gesundheitssystem ist es noch nicht gelungen, Anreize zu gesünderem Leben und zu Vorsorge zu entwickeln. Finanzielle Anreize werden abgelehnt, Information wirkt zu wenig.
Auf Firmenebene ist es bisher nicht gelungen, Anreize zu stärkerer Weiterbildung und zu Forcierung altersgerechter Arbeitsplätze zu schaffen (Experience Rating).
Der Wohnbau wird nicht an die Anforderungen der älteren Bevölkerung angepasst. Dies verhindert, dass diese länger in der gewohnten Umgebung bleiben kann und nur schrittweise Betreuung in Anspruch nehmen muss. Spitäler sind voll mit Pflegepatienten, die bei früherer Umstellung, bei altersgerechten Wohnungen, bei flexibler ambulanter Betreuung in vertrauter Umgebung noch keine Vollbetreuung in Heimen bräuchten.
Weltweite Diskussion über Ungleichheit und Gegensteuerung
Die Diskussion über die Neuorientierung der Sozialpolitik findet in einer Phase statt, in der die Ungleichheit bei Einkommen und bei Lebenschancen steigt. Während die Ungleichheit weltweit zwischen den Staaten in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten eher abgenommen hat (nicht nur durch den Aufstieg Chinas und Indiens, sondern auch durch den beginnenden Frühling in Afrika und hohen Wachstumsraten in Südamerika), hat die Ungleichheit innerhalb der Länder in den meisten Staaten (in der Mehrzahl der Industrieländer aber auch ganz stark in China) zugenommen (vgl. Übersicht Ungleichheits- und Armutsindikatoren). Die Ungleichheit der Einkommen steigt stärker vor, aber auch nach Transfers, stärker für Personen, in geringerem Maß für Haushalte (da in Haushalten mit niedrigen Einkommen mehrere Personen beschäftigt sind).
In den Ländern, die diesem Problem Augenmerk zollen, wird am „unteren Ende“ versucht, die niedrigen Löhne z.B. durch Transferleistungen oder „in work benefits“ zu ergänzen. Lohnergänzungszahlungen sind aber relativ teuer und durch die Budgetkonsolidierung erschwert. In anderen Ländern wird versucht, den größeren Einkommensunterschieden durch Änderung der Steuerstruktur entgegenzuarbeiten, d.h. niedrigere Steuern und Abgaben im unteren und höhere im oberen Bereich. Diesem Versuch sind auch Grenzen gesetzt, weil Entlastungen im unteren Bereich teuer sind (sie betreffen eine breite Basis). Generell können hohe Steuern besonders für Finanzvermögen durch Gestaltung umgangen werden. Vom Effizienzgedanken wie auch von der Chancengleichheit her wären Vermögens- und Erbschaftssteuern gegenüber hohen Einkommenssteuern vorzuziehen, dennoch reduzierten die meisten europäischen Länder die Vermögenssteuern in den letzten Jahren.
Bildungspolitik: Zielvorgaben, Kontrolle und Schul-Autonomie
Die Schlüsselrolle sowohl zur Reduktion der Ungleichheit als auch zur Erhaltung und zum Umbau des Sozialstaates liegt im Bildungssystem. Die Ursache steigender Ungleichheit liegt in der Verschiebung der Nachfrage von unqualifizierter Arbeit zu qualifizierter und in der Verstärkung dieses Trends für Industrieländer durch die Globalisierung. Der stärkeren Ungleichheit durch Transferzahlungen und Steuern entgegenzuwirken ist möglich, aber teuer und daher in einer Phase der Budgetkonsolidierung nicht im nötigen Ausmaß zu erwarten. Eine Erhöhung niedriger Löhne ist möglich und sinnvoll, doch dürfen sie sich nicht zu stark vom Marktpreis entfernen, da dann die Arbeitslosigkeit, die bei den weniger Qualifizierten schon jetzt hoch ist, noch mehr steigt. Und die Arbeitslosigkeit bei den Unqualifizierten ist heute schon ein Mehrfaches verglichen mit der Arbeitslosenquote der qualifizierten Gruppen.
Die langfristige Problemlösung liegt in der Verkleinerung der Gruppe der Unqualifizierten durch Aus- und Weiterbildung. So steigen deren Löhne und deren Leistungskraft.
Die Zuweisung einer entscheidenden Rolle an die Bildungspolitik ist keine Verlagerung der Sozialpolitik auf das Schulsystem. Die Rolle der Sozialpartner, der Firmen und der Institutionen des Gesundheits- und Arbeitsmarktsystems bleiben entscheidend. Das Schulsystem alleine kann die Bildungsunterschiede nicht beseitigen und isoliert hat es auch Tendenzen, das nicht zu tun, sondern als Subsystem mit eigenen Werten und Methoden losgelöst von gesellschaftlichen Prioritäten gestaltet zu werden. Aus- und Weiterbildung müssen vernetzt, Wirtschaft und Schulen stärker verzahnt werden, ein Teil der Zusatzlehrer sollte praktische Betriebserfahrung haben, Pädagogen sollen die Schulen vorübergehend verlassen, um in Firmen zu arbeiten, so z.B. in der Weiterbildung tätig zu werden.
Wie kann es weiter gehen?
Fiskalpakt notwendig, aber asymmetrisch
(1) Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen verstärkter fiskalischer Integration in der EU einerseits und nationalstaatlicher Sozialpolitik andererseits. Die Verstärkung der Fiskalregeln ist notwendig, weil die bisherigen Regeln nicht eingehalten wurden. In „guten Jahren“ wurden hohe Schulden nicht abgebaut und es gab keine Budgetüberschüsse. In der Finanzkrise entstanden zusätzliche Defizite durch Steuerausfälle und Stimulierungsprogramme kamen notwendig hinzu. Das fehlende Sparen vor der Krise, richtige Stimulierungsprogramme und Steuerausfälle in der Krise und die Bankenrettungen haben zu staatlichen Liquiditäts- wenn nicht Insolvenzsituationen und extremen Zinssätzen für Staatsschulden geführt. Die neuen Regeln (Sixpack, Fiscal Compact) sind anlassbezogen asymmetrisch, sie definieren Obergrenzen für Defizite und Schulden, und es fehlt jede Aktivkomponente. Zukunftsziele der Europa-2020-Strategie werden vergessen.
Soziale Ziele finden Weg in europäische Ziele
(2) Die Sozialpolitik ist primär Aufgabe der Mitgliedsländer, allerdings gibt es Bereiche, in denen verbindliche Direktiven erlassen werden (Arbeitsschutz, etc.). Die Europa-2020-Strategie nennt „integratives“ Wachstum als drittes Ziel gleichberechtigt mit intelligentem und nachhaltigem Wachstum. Die Mitgliedsländer mussten nationale Ziele setzen, so z.B. zur Reduktion der Zahl der „Ausgrenzungsgefährdeten“. Der Fortschritt in der Zielerreichung wird im „Europäischen Semester“ mit den anderen Zielen und der Budgetentwicklung beurteilt. Das „Semesterzeugnis“ mündet in wirtschaftspolitischen Empfehlungen, die allerdings heute von Empfehlungen zu Konsolidierung der Budgets dominiert werden.
Keine Senkung der Sozialausgaben, steigender Bedarf und neue Herausforderungen
(3) Die Konsolidierung hat den Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung nicht oder noch nicht reduziert. Er liegt 2009 (bei 30 % der Wirtschaftsleistung, das ist eher um 1 bis 2 % höher als 2000 (nur in einem von 27 Ländern niedriger). Dennoch enthalten alle Konsolidierungsprogramme auch Einsparungen im Sozialbereich, besonders bei Pensionen und Gesundheit. Diese Einsparungen haben eher steigende Anforderungen gebremst als eine Rücknahme der Aufwendungen gebracht. Pensionen und Gesundheit machen im EU-Schnitt zusammen 20 % der Wirtschaftsleistung aus und damit 66 % der Sozialausgaben bzw. 40 % der Staatsausgaben. Die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung und noch mehr jene für aktive Arbeitsmarktpolitik (Umschulungen, etc.) machen weniger als 10 % der Sozialausgaben aus. Da die Zahl der Arbeitslosen steigt und der „Mismatch“ zwischen Qualifikation der Arbeitsuchenden und Nachfrage der Wirtschaft größer wird, wächst hier ein größerer Bedarf. Ebenso sind viele „neue“ Risiken (z.B. aus veränderten Familienstrukturen, größerer internationaler Mobilität) im Sozialsystem zu wenig angesprochen.
Staatsquoten über 50 %, wenige Erfolge bei administrativen Einsparungen
(4) Eine Vergrößerung des Anteils der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung scheint mittelfristig nicht realistisch. Die Staatsausgaben überschreiten in vielen Ländern 50 % der Wirtschaftsleistung. Die Staatsquote liegt in der EU höher als in anderen Wirtschaftsräumen und Vergangenheitsausgaben stehen in immer stärkerem Spannungsverhältnis zu offensiven Aktivitäten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wie Bildung, Innovation, Kinderbetreuung und Nachhaltigkeit. Wenn es nicht zu massiven Einsparungen im Verwaltungsbereich kommt, so werden neue soziale Aufgaben durch Umschichtung innerhalb der Sozialausgaben stattfinden müssen.
Vorbildwirkung des skandinavischen Modells, aber nicht bei Jugendarbeitslosigkeit
(5) Europa kennt verschiedene sozioökonomische Modelle. Das skandinavische System gilt als umfassendster Wohlfahrtsstaat, allerdings auch mit strengen Verpflichtungen und hoher Transparenz. Es vereint heute fiskalische Disziplin mit starken Anreizen zu Ausbildung und Innovationen. Pensionen werden an die Lebenserwartung angepasst, Kinderbetreuung hat hohen Stellenwert, aber es kann es etwas höhere Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit nicht verhindern. Das kontinentale Modell schützt besser vor Entlassungen, das bringt aber auch Insider-Outsider-Unterschiede. In der letzten Krise haben einige Länder mit flexibler Nutzung der Kurzarbeit Erfolge gehabt, andere haben zweistellige Arbeitslosigkeit und zweistelliges Budgetdefizit (Frankreich) erlitten. Die Sozialausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung sind im kontinentalen Modell heute die höchsten aller Modelltypen. Das angelsächsische Modell beruht auf bedarfsabhängigen Sozialleistungen, hat in den letzten Jahren die Arbeitsaufnahme durch „in work benefits“ begünstigt und damit die in diesem Modell sehr starke Ungleichheit reduziert. Hohe Defizite führen dazu, dass dieser Weg nur noch beschränkt möglich ist und Arbeitslosigkeit bei hohen Budgetdefiziten steigt. Das südländische Modell ist in einer tiefen Krise. Hohe Leistungsbilanz- und Budgetdefizite gemeinsam mit Bankenkrisen führen dazu, dass Konsolidierungsprogramme gefahren werden müssen, bei denen zwar strukturelle Reformen erfolgen, aber einen starken Schnitt bei Pensionen, Sozialleistungen und Gehältern und auch im Gesundheitssystem erfordern.
Jugendbeschäftigung entscheidet über Akzeptanz des europäischen Modells
(6) Die Arbeitslosigkeit ist in Europa heute über 10 % und damit höher als in den USA und als vor der Krise. Die Jugendarbeitslosigkeit übersteigt 20 % und ist in vielen Ländern gleich hoch wie die Erwerbsquote in dieser Altersgruppe. Es werden aus budgetären Gründen aber relativ wenige Maßnahmen zur Verringerung ergriffen. Dies führt zu einer gesellschaftlich und politisch spannungsreichen Entwicklung, die Jugend erkennt auch das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht als gerecht an. Das deutsch-österreichische System der dualen Ausbildung gilt hier als Best Practice, auch wenn es mit hoher und früher Spezialisierung und zu geringer Weiterbildung verbunden ist. Die „Ausbildungs- oder Beschäftigungsgarantie“ in Österreich gilt ebenfalls als vorteilhaft. Es wäre sinnvoll, für diese Fragen in einem Sozialpakt einen gewissen Rahmen und einheitliche Zielsetzungen festzulegen sowie auch neuen Arbeitszeitmodellen und dem Intergenerationsausgleich einen Rahmen zu geben. Ein „Social Compact“ könnte das Gegengewicht zum Fiskalpakt darstellen.
Ungleichgewichte steigen, zwischen europäischen Ländern und bei Einkommen
(7) Die Einkommensverteilung hat sich in den letzten Jahren weltweit zu Lasten des Faktors Arbeit verschoben und die Einkommensunterschiede innerhalb der Länder wurden größer. Die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern wurden weltweit eher geringer, aber die Ungleichgewichte in der Eurozone stoppten auch den Aufholprozess südlicher Länder abrupt und sind ins Gegenteil umgekehrt. Die Verschiebung der Einkommensverteilung hat makroökonomisch negative Folgen, wenn die Unternehmereinkommen nicht für Investitionen genutzt werden (und der Unternehmenssektor Nettogläubiger wird). Die Verschiebung der personellen Einkommensverteilung reduziert ab einer gewissen Höhe den Konsum und erhöht die Armutsgefährdung (dies wird allerdings in Österreich zum Teil durch den Anstieg der Beschäftigungsquote und die größere Zahl der Erwerbstätigen pro Haushalt gemildert). Die Ursachen der Verschiebung liegen einerseits in technologischen Trends, andererseits in der Globalisierung. Auch die Heterogenisierung der Arbeitswelt und die geringe Bedeutung von Kollektivverträgen und Mindestentlohnungen tragen zur zunehmenden Spreizung der Einkommen bei. Von den Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Gegensteuerung sind „in work benefits“ in der Phase der Konsolidierung teuer. Steuerliche Änderungen könnten die Sekundärverteilung egalitärer machen, Entlastungen von Steuern und Sozialbeiträgen sind jedoch im unteren Einkommensbereich auch teuer. Anhebungen bei den Spitzeneinkommen sind möglich und wenn sie bei einer niedrigen Schwelle beginnen (wie in Österreich), stoßen sie auf den Widerstand des Mittelstandes. Vermögenssteuern können einen Ausgleich bringen, das ist leicht bei Grundvermögen, schwieriger bei Finanzvermögen. Tatsächlich dürften die Reformen im Steuersystem nach der Krise Ungleichheiten verschärft haben, da in den meisten Ländern die Umsatzsteuern z.T. sehr stark angehoben wurden und diese die niedrigen Einkommen stärker belasten.
Bildungspolitik kann Ungleichheiten verhindern, nicht nur Folgen korrigieren
(8) Die langfristig beste und billigste Methode zur Lösung traditioneller aber auch neuer sozialer Herausforderungen und auch der gestiegenen Einkommensdifferenzen liegt in der Bildungspolitik. Es gibt durch Globalisierung und Technologieentwicklung eine stärkere Nachfrage nach qualifizierter Beschäftigung und eine geringere nach Unqualifizierten. Die Hebung des Qualifikationsniveaus senkt daher die Arbeitslosigkeit im Schnitt und verringert die Unterschiede zwischen hoher Arbeitslosenquote bei Unqualifizierten bei gleichzeitiger Knappheit in vielen technisch-naturwissenschaftlichen Berufen. Ein stärkerer Ausgleich der Vererbung der Bildungsunterschiede nach Eltern, Region und Geschlecht verringert die Armut und auch den Einkommensverlust beim Eintritt neuer Risiken. Kinderbetreuungsplätze und definierte Bildungszielen sind notwendig, um die Voraussetzungen für den Schulbesuch zu schaffen. Hier sollte es möglich sein, restliche Schwächen zu beseitigen und Neigungen zu fördern, ohne frühe Schulwegentscheidungen zu verlangen und den Druck in Richtung Privatschulen zu verstärken. Weiterbildung und Umschulungen sowie altersgerechte Arbeitsplätze verringern das Risiko bei Strukturumbrüchen und im Alter.
Sozialpolitik muss mit anderen Politiken zu Gesamtstrategie verschmolzen werden
(9) Sozialpolitik auf sich allein gestellt und mit materiellen Zahlungen wird generell immer weniger wirkungsvoll. Sozialpolitik muss und wird zusammenwachsen mit Bildungspolitik, mit Innovations- und Regionalpolitik, sowie mit Gesundheitspolitik und ganz besonders mit der Migrationsstrategie. Die Zukunft gehört einer integrativen, systemischen Sozialpolitik, die mit den anderen Politikbereichen koordiniert ist. Schon deswegen ist es sinnvoll, in einem Sozialpakt den Rahmen für eine Strategie zu setzen, die die stärkere fiskalische Integration ergänzt und mit dem europäischen Modell des Wohlfahrtsstaates kompatibel macht.
Den Europäischen Weg neu definieren
(10) Das europäische Modell ist ein Erfolgsmodell in der Midlifecrisis. Der Friedensnobelpreis hat z.B. die Rolle der EU als Friedensmodell unterstrichen. Obwohl Europa die Finanzkrise nicht verursacht hat, wächst es in und nach der Krise weniger als die USA und hat eine höhere Arbeitslosigkeit. Die Ungleichgewichte zwischen den europäischen Ländern und zwischen den Einkommen sind größer geworden. In dieser Phase ist es notwendig, sich zu überlegen, welche Korrekturen auf dem an sich richtigen Weg notwendig sind, um das europäische Modell dynamischer und sozialer zu machen und seine Stärken etwa im ökologischen und im Bereich bei der Eingrenzung von Einkommensunterschieden zu nutzen. Dies geschieht in dem Projekt WWWforEurope, das das WIFO im Auftrag der GD Forschung und Innovation in einem Team von 33 europäischen Partnern durchführt.
Den Wachstumspfad verändern, nicht Wachstum verringern
(11) Die Analyse zeigt, dass es nicht leicht ist, mehr Dynamik und stärkere Absicherung mit Einzelmaßnahmen zu erreichen. Es bedarf stärkerer Anstrengungen im Bildungssystem und eines neuen Konzepts der europäischen und nationalen Wachstumspolitik. Das soziale Problem und die Arbeitslosigkeit sind leichter zu lösen, wenn die Wirtschaft sich dynamischer entwickelt. Neue technologische Trends und auch das Pensionssystem brauchen ein Mindestwachstum von 2 %, um die Beschäftigung und den staatlichen Zuschuss zu den Pensionen zu stabilisieren. Wachsende Wirtschaften waren allerdings immer mit einem höheren Energie- und Rohstoffverbrauch verbunden, sodass eine absolute Entkoppelung von Wirtschaftsleistung und Ressourcenverbrauch stattfinden muss.
Ein europäischer Sozialpakt und Forschung zum europäischen Weg sind nötig
(12) Europa befindet sich nicht in einer Phase des Sozialabbaus im Sinne einer Verringerung der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung, sondern in einer Phase, in der Umwälzungen der Gesellschaft einen Umbau des Sozialsystems und die Lösung neuer Herausforderungen erfordern. Die Unterschiede in den Einkommen und Lebenschancen steigen. Es ist nicht leicht (und auch nicht effizient), die Kluft mit Transferzahlungen und Steueränderungen auszugleichen. Daher liegt der Schlüssel zur Reduktion der Ungleichheit der Einkommen in der Bildungspolitik. Die stärkere fiskalische Integration Europas muss mit eingehenden Reformen im Sozialsystem, mit Schwerpunkt auf neuen sozialen Risiken, auf Jugend, Bildung und Weiterbildung bzw. Prävention im Gesundheitssystem erfolgen. Daher ist ergänzend zum Fiskalpakt ein Europäischer Sozialpakt notwendig und eine Forschung, die diesen Reformprozess begleitet.