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Europa am Scheideweg: Wege aus der Depression


Univ.-Prof. Dr. Stephan LeibfriedDer Autor:
Univ.-Prof. Dr. Stephan Leibfried

leitet den DFG-Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ und lehrt an der Universität Bremen als Forschungsprofessor sowie an der Jacobs University. Er ist Co-Direktor des Zentrums für Sozialpolitik und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

KURZFASSUNG


In fünf Punkten möchte der Autor die Frage „Europa: Quo vadis?“ mit neuen Perspektiven konfrontieren.

I. Zur unauflösbaren Hochzeit von Kapitalismus und sozialer Sicherung
Bei unserem auf die Bedrohungen in der Gegenwart fixierten Blick vergessen wir leicht: Im Westen lebten wir von 1914 bis weit in die 1960-er Jahre hinein in einer Welt geschlossener Nationalstaaten. Die „erste Globalisierung“ von 1870 und danach war im August 1914 blitzschnell und nachhaltig für etwa ein halbes Jahrhundert zusammengebrochen. Dann kam ein Protektionismus, der seinem Selbstverständnis nach auf Arbeitsplatzsicherung im jeweiligen nationalen Status quo zielte. Das war auch eine Art Sozialpolitik über die wirtschaftspolitische Bande.

Aus dem Protektionismus fand Westeuropa und die ganze OECD-Welt erst langsam heraus, nachdem die „sozialen Sicherheitsinteressen“ der abhängig Beschäftigten im „Wohlfahrtsstaat“ vor allem seit Mitte der 1950-er Jahre eine andere Sicherungsform gefunden hatten. Die Politik konnte über die Bildung der Europäischen Gemeinschaft zunächst den Handelsprotektionismus in vielen kleinen Schritten und ohne große Widerstände abbauen und so die Märkte europäisch und dann global öffnen. Dieser funktionale Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Marktöffnung lässt sich nicht nur für Deutschland, sondern auch für die USA zeigen: Allerdings wurde dieser Zusammenhang dort nie so vollständig kurzgeschlossen wie in Kontinentaleuropa und ist daher dort auch immer labil geblieben.

Die „unauflösbare Hochzeit zwischen Kapitalismus und sozialer Sicherung“, die in der westlichen Welt eingegangen wurde, steht heute in Frage. In Europa geschieht das wegen einer unvollständigen, nachhinkenden politische Integration: Ihre Vervollständigung wird derzeit allein von der Stabilität des Euro, der Begrenzung der Staatsschulden, der Stabilität der Banken und des Finanzsystems her gedacht. Die Vervollständigung müsste aber auch vom europäischen sozialen Zusammenhalt her gedacht werden, der all das von unten, vom Bürger her, erst einmal zu tragen hätte. Eine Sanierungsunion allein kann nicht von Dauer sein, im Gegenteil, sie setzt auf Zerfall. Wir müssen uns das Ganze wie eine Ellipse mit zwei Brennpunkten vorstellen (Marktintegration, Sozialintegration) und heute die Integration doppelt angehen.

II. Kann denn „Europa“ die Ehe von Markwirtschaft und Sozialstaat vollziehen?
In den vorbereitenden Studien zum Werner-Bericht von 1970 (erster Anlauf zu einer Währungsunion) sah und bedachte man diese „soziale Tateinheit“ für Brüssel noch: Ein Europa mit Währungsunion müsste doch mindestens fünf bis acht Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts (BSP) als (Währungs-)Krisenpuffer und Schock„absorber“ in seiner Hand haben, wenn man andere Währungsunionen zum Vergleich heranzieht. Man orientierte sich an gegenwärtigen und historischen Minima für durable Währungsunionen etwa in föderalen Gebilden. Die Nationalstaaten verfügen heute über etwa 50 % des nationalen Bruttosozialprodukts (BSP), davon sind ungefähr die Hälfte Sozialausgaben; die EU hat aber nur ca. ein Prozent des europäischen BSP in Händen, bei so gut wie null direkten Sozialausgaben. Die EU ist also ein Zwerg, und damit auch ein Pufferzwerg in der heutigen Krise. Schon das zeigt Änderungsbedarf an.

Und Europa, so die Studien zum Werner-Bericht, müsste zudem über eine eigene Rückversicherung gegen Arbeitslosigkeit als schnell wirksamen, automatischen Puffer verfügen, der Zentrum und Peripherie zusammenhält. Die „europäische Banane“, die von London bis Mailand reicht, benötigt eine schützende Verpackung. Man dachte bei der Rückversicherung an das amerikanische Modell einer Kombination von ausgebauter Landes- und nur ergänzender, etwas homogenisierender Bundesversicherung. Dabei gibt der Bund einen gewissen Rahmen vor („Korridor“) und bewerkstelligt dann bei überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit in einer Region einen bundesweiten funktionalen Finanzausgleich durch gestufte Übernahme eines Teils der Kosten. Man dachte aber auch an große, langfristige Infrastrukturprojekte – und orientierte sich dabei u.a. an der automatischen wirtschaftlichen Stabilisierung des US-Kontinents durch den Bundesfernstraßenbau seit Eisenhower.

Ab dem Jahr 1989 hatte man es vereinigungsbedingt so eilig mit der Einführung des Euro, dass man alle derartigen Puffer-Sicherungen ignorierte und sich völlig auf nationale Soliditäts-Zusagen verließ, also das Pferd vom Schwanz her aufzäumte. Europa muss von seinen Bürger im Süden und im Norden auch als sozial sichernd, auch als ein „schützendes europäisches Haus“ erlebt werden können und Europa muss zugleich Staatlichkeit und Verlässlichkeit herstellen bzw. sichern. Als ein rein „technokratisches Rettungsprojekt“ wird es sonst über kurz oder lang an seiner eigenen „inneren Asozialität“ scheitern. Wir müssen also einen viel größeren Sprung nach vorn tun, wenn wir die EU stabilisieren wollen, als wir es bislang wahrhaben wollen und wahrgenommen haben.

Und es kann durchaus sein, dass dabei einige Länder zunächst ins zweite Glied zurücktreten werden oder dass sie, wie England, nicht nur damit drohen, die EU zu verlassen. Vielleicht müssten wir einem solchen Schritt zudem zuerst bei den Ländern tun, in denen es jetzt brennt, denn dort werden die nördlichen Staatsrettungsaktionen von breiten Bevölkerungsschichten als asozial erlebt.

III. Der andere Weg: Das Rutschen in die große Polarisierung à l'américaine
Die USA zeigen uns seit den 1980-er Jahren den Weg, auf den Europa andernfalls auch geraten kann: a) eine zunehmende soziale Polarisierung der Klassen und ein Auswaschen der Mittelschicht, b) eine Risikoabwälzung auf die Bundes- bzw. Mitgliedsstaaten, die die Risiken gar nicht im nötigen Umfang tragen können, selbst wenn sie es wollen, c) eine steuergestützte Privatisierung der sozialen Sicherung, die große Bevölkerungsteile nicht mehr erreicht und die für die Übrigen so teuer wird, dass sie wirtschaftliches Wachstum abwürgt, d) eine Zunahme protektionistischer Instinkte und Maßnahmen und e) das alles schließlich einmündend in eine breite politische Polarisierung und Paralyse auf der Bundesebene.

Die USA gingen bis Anfang der 70-er Jahre, einen nachholenden Weg hin zur europäischen Sozialpolitik. Seither haben sie im Westen einen Sonderweg eingeschlagen, haben ihre alten sozialen Sicherungsansätze eingefroren und eine staatskostengünstigere soziale Regulierungspolitik der Gleichstellung versucht. Diese Politik sucht das Heil in der Privatisierung und in Schadensersatzklagen vor Gerichten bei Verletzungen des Gleichheitssatzes. Diese Politik treibt damit aber die Gesellschaftskosten massiv hoch. Allerdings hat Obama 2010 noch einmal versucht, mit der Gesundheitsversicherung den Anschluss an die Vergangenheit zu finden, wenn auch „gegen den Strom“. Das ist ihm nun teilweise gelungen.

Diese Paralyse nach Innen hat die USA auch ihrer früheren internationalen Vorbildfunktion beraubt: Diese Funktion beruhte nicht nur auf Machtpolitik, sondern auch auf einem global glaubwürdigen „pursuit of happiness“ der Vielen. Von daher ist Europa heute insoweit „ohne Leitbild“. Es könnte aber selber ein Leitbild setzen.

IV. Der genuin europäische Weg: Das „soziale Europa“
Europa hat eine gemeineuropäische sozial sichernde Tradition, die muss es nun auch mit supranationalisieren, wenn es den Schritt zur Verstärkung der EU in der Währungs-, Banken- und Fiskalpolitik wagt. Sonst wird Europa auf den american way gedrängt, wird mittelfristig nicht zusammenhalten können und in die nationale Abschottung der Märkte und politischen Systeme bzw. der Blöcke zurückfallen. Man sieht diese Zukunft in den EU-Länderkoalitionen und in dem entsprechenden Wetterleuchten bei den rechten Parteien, die in manchen Ländern (Italien, Frankreich) schon lange nicht mehr am Rand des politischen Systems stehen.

Auch die zweite Globalisierung und deren weitest entwickelter Teil, die Europäisierung, ist kein wirtschaftlicher „außerirdischer Zwang“, sondern nur ein fragiles politisches Projekt und vor Rückentwicklung nicht gefeit, wenn sie nicht politisch gesichert wird. Das ist die europäische Achillesferse der Gegenwart: Das Europa der 17 ist zwar ein einheitliches Währungsgebiet, hat aber keine fundierte eigene Kapazität, soziale und fiskalische Krisen systematisch auszugleichen, geschweige denn „automatische Stabilisatoren“.

Da die EU-Staaten über ganz unterschiedliche sozialpolitische Traditionen verfügen, kann die EU derzeit allein „rückversichernd“ tätig werden, also nur homogenisierend in gewissem Umfang Korridore ziehen und Rückfallpositionen bei übermäßiger Risikoexposition eines Landes oder einer Region zu den Bedingungen des jeweiligen nationalen Sozialpolitiksystems anbieten. Eine direkte Supranationalisierung der nationalen Sicherheit kommt nicht in Betracht, also insoweit geht es nicht um neue Kompetenzen. Aber Rückversicherung ist eine neue Kompetenz. Die Perspektive Rückversicherung lässt sich, wie bei der Vorbereitung des Werner-Berichts, am Beispiel der Arbeitslosenversicherung im US-Vergleich gut entwickeln. Man denke heute nur an Griechenland, Spanien, Portugal und Italien.

Perspektivisch lässt sich Rückversicherung aber auch in anderen Bereichen der sozialen Sicherung vorstellen, auch wenn da keine ausgebauten Vorbilder bestehen:

  • Bei Mindestrenten bzw. in der europäischen Unterstützung von Rentenkorridoren (Rentenformen und -standards wie das Rentenalter) und dem korrespondierenden Abdecken z.B. von demographischer Überbelastung oder fiskalischer Überlast im Mindestsicherungsbereich;
  • bei der Sicherung gegen Berufsunfähigkeit (wie bei den Renten, aber eben im Blick auf ein europäisches Berufsunfähigkeitsübermaß);
  • bei der Sozialhilfe (durch ein Ziehen relativer Armutsgrenzen anknüpfend an die Wertschöpfung vor Ort, die den unterschiedlichen nationalen Reichtum beachten und die dann ein Rücksichern bei überdurchschnittlicher europäischer Armutsexposition erlauben) oder
  • bei der Gesundheitssicherung (durch ein Ziehen von Mindestsicherungskorridoren könnte man eine Rücksicherung gegen überdurchschnittliche Belastungen in diesem Sektor vorbereiten).


Neu ist eine gesteigerte Legitimationsnotwendigkeit der EU: Sie ist eine untergehende Integrationsform, wenn sie nur Banken und Währungen rettet und Staatshaushalte saniert. Sie muss auch als Einheit erlebt werden, die positiv etwas für den sozialen Zusammenhalt leistet.

Dabei haben wir heute kaum mehr die Wahl zwischen einer EU in der die Sozialstaaten „nationale Reservate“ sind und einer anderen EU. Wir haben nur noch die Wahl wie wir supranationalisieren: Werden die Nationalstaaten gewissermaßen zum Blinddarm der europäischen Finanzminister und der von ihnen supranational verfolgten Politik oder bekommen das Soziale auf der EU-Ebene durch klare Rückversicherungsprofile eine eigene Plattform und eine eigene Sicherung.

V. Aber: Reichen diese Schritte? Was braucht es zusätzlich?
Es braucht mindestens noch zwei weitere Komponenten, um in dieser Krise zu bestehen:

  • Ein expandierender europäischer Haushalt müsste gutteils einer Investitions- und Strukturpolitik in den schwachen Regionen, nicht nur im Süden, gewidmet sein. Das wäre der vielfach beschworene neue „Marshall Plan“, in der die Bildungspolitik eine große Rolle spielen müsste. Wenn man 2,5 % des EU- Sozialprodukts dafür verwendet, dann sollte einem nicht bange sein. Wenn man jetzt über einen europäischen Haushalt der EU 17 nachdenkt, dann geht das vielleicht in die Richtung, auch wenn die derzeitigen Haushaltskämpfe in Brüssel eine solch ausgreifende Weltsicht kaum erkennen lassen. Die Kämpfe werden auch nicht offensiv für zwei solche Brennpunkte geführt. Eine solche Ausweitung bräuchte auch bald eine eigene europäische Steuergrundlage, z.B. ein Euro-Soli oder einen Zuschlag zur Mehrwertsteuer und zusätzlich eine ergänzende europäische Vermögenssteuer.
  • Wir stehen zudem an einer Schwelle im state-building – und damit meine ich hier nicht Europa als Staat, sondern solche Mitgliedstaaten, die man als fragil oder oder nur begrenzt durchgebildet bezeichnen kann. In Griechenland etwa wird sich keine mittelfristig stabile Lösung ergeben, wenn der Staatsapparat (die Steuer- und Leistungsverwaltung) nicht zuverlässig funktioniert. Insofern muss Europa gleichzeitig administrative Entwicklungspolitik leisten.


Die schwierigste Front ist das state-building auf nationaler Ebene durch Brüssel oder seitwärts durch nationale Patenschaften. Hätte man das weit vor dem Jahr 2008 angegangen, so wäre man in einigen Ländern auf breite öffentliche Resonanz gestoßen. Heute, in einer vornehmlich durch Sparen bewältigten Krise, würde das aber nur als „Kolonialisierung des Nordens“ erlebt und bekämpft.

Europa steht in einer Situation des New Deal, aber keiner traut sich das so recht auszusprechen und daraus die nötigen Konsequenzen ziehen. Die EU-Beamten sprechen das kaum aus: Es entspricht vielleicht dem was sie sehen und informell besprechen, aber nicht dem was sie tun dürfen. Und national werden alle Energien und Berichte vom kurzfristigen Handlungdruck der Finanzstabilisierung aufgesogen.

VI. Schluss: Ein Blick zurück nach vorn?
Blickt man zurück auf die US-Verfassungsversammlung im Jahre 1787, so versuchte man Wege aus einer paralysierten Konföderation von 1777 herauszufinden; die Articles of Confederation wurden auch erst im Jahre 1781 angenommen. Diese Paralyse war charakterisiert durch „no money” für die Zentrale und Vollzugsdefizite. Kurzum die Staatsbildung der USA wurde durch zentral geschützte Handelsfreiheit überhaupt erst möglich sowie durch sie forciert; und ein Supreme Court hielt die Balance. Aber die Staatsfrage wurde faktisch erst in den Jahren von 1861 bis 1865, also knapp 80 Jahre später im Bürgerkrieg, entschieden. Und selbst danach bestand über die Staatsqualität der USA zunächst keine Klarheit.

Über die Staatsqualität der USA hat man erst im späteren 19. und 20. Jahrhundert – zunächst im Völkerrecht, dann im Rahmen der Föderalismustheorie – räsoniert und Klarheit gewonnen. Was für eine Art „Staat“ diese EU sein wird, das mögen auch in Europa spätere Generationen entscheiden: Heute ist es, wie im Jahre 1787, erst einmal wichtig, dass wir die Herausforderungen, die anstehen, frontal und praktisch angehen und insoweit die EU 17 und parallel die EU 27 getrennt aber massiv stärken und so gestärkt durch die Krise kommen.

Die Angst, die die Deutschen schon 1952 bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatte, begleitet sie bis heute. Aber sich im eigenen Boot davon zu stehlen ist heute noch aussichtsloser als es das im Jahre 1952 war. Dann doch lieber gleich die ganze Herausforderung mutig und frühzeitig annehmen und konfrontieren.

Zuletzt aktualisiert am 15. März 2022