Der Autor:
Gisbert W. Selke
leitet den Forschungsbereich Arzneimittelinformationssysteme und Analysen im Wissenschaftlichen Institut der AOK Berlin.
KURZFASSUNG
Im Jahr 2009 sind die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland mit 32,4 Mrd. Euro auf einen neuen Höchstwert gestiegen. Im Durchschnitt sind die Arzneimittelausgaben in den vergangenen zehn Jahren um rund fünf Prozent pro Jahr geklettert. Allein für die AOK als größte deutsche Kassenart haben sich die Arzneimittelausgaben zwischen 1995 und 2009 verdoppelt, während die ambulanten Kosten um rund 65 % und die stationären Ausgaben um etwa 45 %, also in deutlich geringerem Maße, stiegen (AOK 2009). Der Trend ist ungebrochen, erste vorläufige Zahlen lassen für 2010 einen weiteren Anstieg der Arzneimittelkosten um mehr als drei Prozent erwarten.
Auch wenn steigende Arzneimittelausgaben ein weit verbreitetes Problem für die europäischen Sozialversicherungssysteme darstellen, gibt es doch Besonderheiten des deutschen Systems, die die Entwicklung stark beeinflussen. Grundsätzlich ist Deutschland als Hochpreismarkt einzustufen, was wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass pharmazeutische Hersteller ihre Preise hier, anders als in fast allen übrigen europäischen Ländern, bisher in freier Entscheidung festsetzen können. Da zudem in diesem Bereich eine Regulierung der Preise über Marktmechanismen praktisch nicht stattfindet, gibt es zunächst kaum Anreize für Hersteller, über den Preis miteinander in Konkurrenz zu treten. Allerdings gilt dies nicht mehr uneingeschränkt, denn seit Einführung des Festbetragssystems (1989) gelten für große Teile des patentfreien Marktes Erstattungshöchstpreise, die für Preisstabilität gesorgt haben.
Dies hat zu einer Zweiteilung des Marktes geführt: Rund 71 % aller abgegebenen Arzneimittelpackungen des Jahres 2010 wurden von Zweitanbietern hergestellt; dies entspricht ca. 35 % des Fertigarzneimittelumsatzes zu Apothekenabgabepreisen. Die Preise im patentfreien Segment gehen leicht zurück, wenngleich im europäischen Vergleich nach wie vor auf hohem Niveau ihr Marktanteil zwar langsam, aber stetig wächst. Die patentierten Präparate hingegen vereinigen trotz deutlich niedrigeren Verordnungszahlen die Hälfte des Arzneimittelumsatzes auf sich, und in diesem Bereich besteht faktisch ein Preisdiktat der Hersteller. Dementsprechend wird der kostensparende Trend zu stärkerer Generikanutzung durch die kostentreibende Entwicklung bei den patentierten Arzneimitteln bei weitem überkompensiert: Auf das Basisjahr 1995 bezogen, lag der Index der Strukturkomponente, der die Wirkung von Umschichtungen in den Marktanteilen bei Ausgaben beschreibt, bei 263 % im Jahr 2009. Die Verschiebungen in den Marktanteilen hätten also die Kosten auf mehr als das Zweieinhalbfache erhöht, wenn nicht gleichzeitig die Umstellung auf Generika dazu geführt hätte, den Zuwachs auf das Doppelte zu begrenzen, wie erwähnt.
Zum 1. Januar 2011 ist das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) in Kraft getreten, das die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel zu einem wesentlichen Element der Preisgestaltung macht. In die Ausgestaltung sind Diskussionselemente eingeflossen, die die 2008 gegründete europäische Piperska-Forschungsgruppe seit ihrer Gründung befasst hat. Das Ziel dieser Gruppe ist es, den rationalen Umgang mit Arzneimitteln zu fördern, indem z.B. erfolgreiche Ansätze aus einzelnen Ländern identifiziert und auf ihre Nutzbarkeit in anderen Ländern untersucht werden.
Tatsächlich findet eine solche Nutzenbewertung in Deutschland bereits statt, sie wird von dem eigens dafür gegründeten Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführt. Diese fundierte Analyse ist sinnvoll und notwendig, sie kann jedoch eines der oben aufgeführten Ziele nicht erfüllen: Sie wird sehr ausführlich auf der Basis methodisch hochwertiger Studien durchgeführt und ist daher normalerweise erst mehrere Jahre nach Markteintritt des Wirkstoffs verfügbar. So lange kann aber mit der Entscheidung über Erstattung und angemessenen Preis nicht gewartet werden, denn der mögliche therapeutische Fortschritt soll bei den Patienten, die ihn benötigen, möglichst ohne Verzögerung ankommen. Die bisherige Praxis vermeidet dies, indem das neue Präparat bis zum Vorliegen der IQWiG-Bewertung ohne Einschränkungen als erstattungsfähig gilt – und verletzt damit ein anderes der oben genannten Ziele. Die Frage, ob ein neues Präparat überhaupt besser ist als die etablierten Therapien, muss daher frühzeitig beantwortet werden.
In der kürzlich in Kraft getretenen Fassung unternimmt das Gesetz einen großen Schritt in die richtige Richtung, um die Entwicklung echter Innovationen zu fördern und gleichzeitig sinnvolle neue Therapien auch morgen noch für die Versicherten verfügbar und bezahlbar zu halten. Allerdings noch nicht konsequent genug.
Die Arbeit von Gruppen wie der Piperska-Forschungsgruppe, die akademische Analyse mit politischem Gestaltungswillen verknüpfen, zeigt nicht nur, dass die Probleme in vielen europäischen Ländern ähnlich gelagert sind, sondern auch, dass an vielen Stellen interessante und viel versprechende Ansätze zur Lösung dieser Probleme entstehen. Österreich ist seit Anbeginn aktiv an der Gestaltung dieser Gruppe beteiligt und hat stets wichtige Impulse in dieses gesamteuropäische Projekt eingebracht. Gegenseitiges Lernen aus Erfolgen wie aus Fehlschlägen ist wichtig, um die Zukunft meistern zu können. Diese Botschaft ist nun auch in Deutschland angekommen.