In Österreich treffen Patientinnen und Patienten mit vielschichtigem Behandlungsdarf, wie z.B. multimorbid erkrankte Menschen, oftmals auf ein Gesundheitswesen, das nur unzureichende Lösungen für sie anbietet. In der EWG-Veranstaltung vom 13. September 2018 wurde daher der Versorgungsbedarf dieser PatientInnengruppe ins Zentrum der Diskussion mit Expertinnen aus Deutschland und Österreich gerückt.
Am Beginn der Fachtagung standen die Vorträge von Prof. Dr. Volker Amelung vom Institut für angewandte Versorgungsforschung in Berlin und von Frau Anahita Sharifgerami, B.A., Sozialarbeiterin im Sozialmedizinischen Zentrum (SMZ) Liebenau in Graz.
Prof. Amelung präsentierte die Ergebnisse des vom ihm und seinen MitarbeiterInnen im Auftrag des Hauptverbandes erstellten Gutachtens mit dem Titel „Hochnutzer – Interventionen zur effizienten Versorgung behandlungsintensiver Populationen in Österreich“. Dabei ging er zunächst auf unterschiedliche Ansätze zur Identifikation von Hochnutzern ein. Grundsätzlich kann sich die Definition an den entstandenen Kosten orientieren oder aus Perspektive der Menge der in Anspruch genommenen Leistungen betrachtet werden. Insgesamt handelt es sich bei Hochnutzern jedoch meist um Personen mit komplexen, multiplen und schwer vorhersehbaren Bedarfen. Aus diesem Grund hat sich für diese PatientInnengruppe individuelles und flexibles Fallmanagement als das am besten geeignete Versorgungskonzept erwiesen. Anhand von international bereits etablierten Beispielen aus Schweden (telefonbasiertes Fallmanagement), Spanien (Hospital at Home), Italien (Telemonitoring für chronisch Kranke) und Deutschland (Versorgungsmanagement durch medizinische Fachangestellte) konnte Prof. Amelung zeigen, wie die Versorgung von Hochnutzern in unterschiedlichen Settings effektiv gestaltet werden kann. Durch diese Interventionen konnte meist die Nutzung der Notfallaufnahmen und die (Re-)Hospitalisierungsrate reduziert werden. Ferner konnten die Kosten in der stationären und ambulanten Versorgung verringert werden.
Die aus dem Gutachten abgeleiteten Handlungsempfehlungen richten sich in erster Linie an die Prävention von Behandlungsintensität. Dies kann durch eine Stärkung der Gesundheitskompetenz (insbesondere durch Gesundheitsförderung zur Krankheitsprävention), den Auf- und Ausbau von Koordinations- und Navigationsangeboten im Gesundheitswesen sowie der Förderung des Selbstmanagements bei chronischen Erkrankungen erreicht werden. Prof. Amelung brach auch eine Lanze dafür, nach Möglichkeit bewährte Modelle zu übernehmen, diese aber den regionalen Bedürfnissen anzupassen.
Im zweiten Vortrag stellte Frau Sharifgerami das SMZ Liebenau in Graz vor, in welchem 15 MitarbeiterInnen unterschiedlicher Professionen integrative Gesundheitsversorgung anbieten. Dabei werden neben der ärztlichen Betreuung auch psychische, soziale und psychosoziale Probleme adressiert. In diesem ganzheitlichen Ansatz wird aber auch Gesundheitsförderung und Gemeinwesenarbeit groß geschrieben. In regelmäßigen Veranstaltungen des SMZ Liebenau, wie z.B. dem „Mittagstisch“, dem „Bandcafé“ oder „Nordic Walken an der Mur“ wird den Menschen eine Plattform geboten, ihre sozialen Netzwerke auf- und auszubauen. Ziel dieses umfassenden Versorgungskonzepts ist es, Krisensituationen und Rückfälle zu minimieren, stationäre Aufenthalte zu reduzieren, die psychische Gesundheit zu fördern und persönliche Ressourcen zu stärken. Anhand von zwei Fallbeispielen illustrierte Frau Sharifgerami wie im SMZ Liebenau sehr komplexe und unterschiedliche Fälle individuell betreut werden.
In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Prof. Amelung, Frau Sharifgerami, Dr. Joachim Hechenberger (Arzt für Allgemeinmedizin in Hohenems), Mag. Alexander Wolf (Patientenanwaltschaft für das Land Vorarlberg) sowie Mag. Andreas Obermaier (Direktor, in der Wiener Gebietskrankenkasse) unter der Moderation von Mag. Romana Ruda Schwachstellen im österreichischen Gesundheitssystem und mögliche Lösungsansätze. Einigkeit bestand darin, dass besonders der Beruf der Allgemeinmedizin attraktiver gestaltet werden muss. Die Implementierung neuer Vergütungssysteme ist nur eine Komponente, die dazu beitragen könnte. Ein wichtiger Faktor ist die stärkere Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen. Nur dann kann individuelles Fallmanagement tatsächlich gelebt werden. Wirksame interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert jedoch weitreichendes Überdenken bisheriger Muster: So würde etwa eine gemeinsame Ausbildung ärztlicher und nicht ärztlicher Gesundheitsberufe das Verständnis der unterschiedlichen Berufsgruppen füreinander stärken und die Zusammenarbeit im Team Normalität im Alltag werden lassen.
In der Diskussion wurde aber auch hervorgehoben, dass u.a. mit der stufenweisen Implementierung der neuen Primärversorgung oder dem „Gesundheitstelefon 1450“ bereits Schritte in die richtige Richtung gesetzt wurden. Nichts desto trotz gilt es weitere Maßnahmen zu setzen, um das österreichische Gesundheitssystem – nicht nur für behandlungsintensive PatientInnen – bestmöglich und nachhaltig für die Zukunft zu rüsten.
Literatur:
Hanna Sydow, Lisa Bornscheuer, Laura Knoepffler, Prof. Dr. Volker Amelung (2018). Hochnutzer – Lehren aus internationalen Erfahrungen zur effizienten Versorgung von behandlungsintensiven Populationen. Bericht des Instituts für angewandte Versorgungsforschung.