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60 Jahre Hauptverband: Interview mit Dr. Herbert Reiger


Dr. Herbert ReigerDr. Herbert Reiger, geb. am 3. März 1927, trat 1951 in die Bundeswirtschaftskammer ein und war nach anfänglicher Tätigkeit im Bereich der Verkehrspolitik ab 1954 zunächst als Referent in der Präsidialabteilung, ab 1972 als deren Leiter tätig. Ab 1979 war Dr. Reiger Stellvertretender Generalsekretär der BWK.

Seit In-Kraft-Treten des ASVG im Jahr 1956 hat sich Dr. Reiger für die damals im Entstehen begriffene Gewerbepension engagiert und an den Verhandlungen 1956/57 teilgenommen. Er gilt als einer der Väter der Gewerbepension.

In der Sozialversicherung wirkte er im Verwaltungsausschuss der Gewerblichen, Pensions-, dann Sozialversicherungsanstalt mit und von 1975 bis 1992 im Überwachungsausschuss des Hauptverbandes. Das Interview mit Dr. Herbert Reiger führte Dr. Wilhelm Donner.


Sie waren 17 Jahre, von 1975 bis 1992 Vorsitzender des damaligen Überwachungsausschusses im Hauptverband, der dann Kontrollversammlung hieß und nunmehr als Controllinggruppe fungiert. Woran erinnern Sie sich noch im Wesentlichen?
Herbert Reiger:
Ich muss ein wenig ausholen, warum ich, der ich seit 1951 in der Bundeswirtschaftskammer tätig war, überhaupt in die Sozialversicherung gekommen bin. Die Schaffung der Gewerbepension war gleichsam mein Einstieg in die Sozialversicherung. Dass ich dann 1975 in den Hauptverband kam, lag daran, dass der Vorsitz im Überwachungsausschuss schon immer von leitenden Personen aus der Bundeswirtschaftskammer ausgeübt wurde. Ich habe mir relativ schnell die Materie angeeignet, weil sie mir im Prinzip nicht unbekannt war.
Ich erinnere mich an die aus heutiger Sicht angenehme Arbeit im damaligen Überwachungsausschuss. Angenehm deshalb, weil der Hauptverband so wie heute hervorragend geführt war und zwar unter dem legendären Hofrat Dr. Dragaschnig. Zunächst einmal im Kleinen, also bei den administrativen Tagesgeschäften. Es wurde gespart, die Gebarungskontrolle war für den Überwachungsausschuss daher nicht kompliziert. Es gab im Übrigen ein engeres Prüfkomitee, dem ich nicht angehörte, das sich mit großem Zeitaufwand den Details gewidmet hat.
Andererseits war bei den ASVG-Versicherungsträgern von Beginn an die Kräfteverteilung so organisiert, dass die Dienstnehmervertreter praktisch überall die Mehrheit hatten. Das hat nicht bedeutet, dass sie diktiert haben, dazu war die Sozialpartnerschaft zu stark und auch funktionsfähig genug. Später hat sich das vielleicht ein wenig geändert, aber es hat zu meiner Zeit überall dort, wo in den zustimmungspflichtigen Materien Ermessensentscheidungen zu treffen waren, ein Konsens erzielt werden müssen, bevor der Überwachungsausschuss formal befasst wurde. Ich erinnere mich an den einzigen Fall, wo es keinen Konsens gab. Es ging um die Bestellung einer Leitungsposition. Wir haben dieses einzige Mal das Verfahren bis zum Sozialminister ausgeschöpft, allerdings ohne Erfolg.

Sie arbeiteten zuletzt einige Jahre mit Dr. Karl Kehrer zusammen. Wie verstanden Sie sich mit seinem Vorgänger Dr. Alfred Wakolbinger?
Herbert Reiger:
Dr. Wakolbinger hat seine Position sehr lange ausgeübt. Ich hatte mit ihm bereits in der Wirtschaftskammer engen Kontakt, wir kannten uns schon seit den frühen 50-er Jahren.

Was bedeuteten die 17Jahre, als sie sozialpolitisch tätig waren, für Österreich?
Herbert Reiger:
Ich hatte mit Sozialpolitik zwar nur im Rahmen der Sozialversicherung zu tun, das heißt nicht, dass ich die Dinge nicht auch darüber hinaus verfolgt habe. Was die Sozialversicherung betrifft, war es eine Zeit des laufenden Ausbaus, wenn auch nicht ohne finanzielle Probleme, die es schon damals gab. Ich habe es vor allem bezüglich der gewerblichen Sozialversicherung erlebt, es waren in der Tat entscheidende Phasen. Insofern, als zunächst der Anfang der Gewerbepension im Jahr 1958 in jeder Hinsicht bescheiden war, dann aber die Sogwirkung des ASVG immer stärker wurde. Obwohl anfänglich viele Gewerbetreibende diese Versicherung nicht geschätzt haben, hat sich das bald geändert. Wir waren darauf bedacht, allmählich das Niveau des ASVG zu erreichen, und zwar auch bei der Ausweitung der gewerblichen Krankenversicherung auf alle Unternehmer. Das ist im Laufe der Zeit auch gelungen. Dabei war der Hauptverband sehr hilfreich. Sie war zuvor hochgradig aufgesplittert und wurde dann in den frühen 70-er Jahren unifiziert bzw. organisatorisch mit der damaligen Pensionsversicherungs- zur Gewerblichen Sozialversicherungsanstalt fusioniert. Die Liquidation der Kassen der Kaufmannschaft, des Fremdenverkehrs und Gewerbes hat bei den Betroffenen große Widerstände ausgelöst, war aber für die Sozialversicherung ein ganz entscheidender Weg.

Es gab also Widerstand der Gewerbetreibenden gegen die Einbeziehung in die SV. Was waren die Gründe für die Widerstände bei den Gewerbetreibenden?
Herbert Reiger:
Am Anfang war die Handelskammeraltersunterstützung, sie war eine Fürsorgeeinrichtung, d.h. es hatte der Einzelne nach dem Einkommen gestuft einen Jahresbetrag zu zahlen, nicht sehr hoch, aber es wurde immer wieder gesagt, „ich muss da zahlen und bekomme sicher nichts.“ Das war der Anfang des Widerstandes. Ich selbst hatte damals in der dritten Instanz in der Bundeskammer solche Beitragsrechtsmittel zu erledigen. Das war das eine, dass manche nicht verstanden haben, dass sie unter Umständen doch auch bedürftig werden könnten, viele sind es auch wirklich geworden oder gewesen. Und zweitens gab es in bestimmten Kreisen grundsätzlichen Widerstand. Das freie Unternehmertum wurde als bedroht angesehen und zwar nicht nur von Industriellen. Allmählich hat sich dann dieses Problem gelöst, weil die Unternehmer gesehen haben, dass sie ja doch, anfänglich zwar bescheidene, aber dann immer ansehnlichere Pensionen bekommen. Es hat ein Umdenkprozess stattgefunden.

Sie waren als Vorsitzender im damaligen Überwachungsausschuss zugleich auch stellvertretender Generalsekretär der Wirtschaftskammer. Wie gestalteten sich damals ihre wirtschaftspolitischen Einsprüche in der Sozialversicherung oder welche Anliegen haben Sie in diesem Zusammenhang eingebracht?
Herbert Reiger:
Offiziell hatte ich auf diesem Gebiet keine Kompetenz, das war auch in der internen Aufteilung zwischen Dr. Kehrer und mir seine Kompetenz. Prinzipiell würde ich aber sagen: Die Kammer hat zu allen Zeiten die soziale Marktwirtschaft vertreten. Sicherlich hat es auch bei uns da und dort Liberale im alten Sinn und auch Neoliberale gegeben, aber die Kammer selber hat die soziale Marktwirtschaft konsequent verfochten. Die Wirtschaftskammer konnte daher nicht mit allem, was von der Regierung oder sonst woher kam, einverstanden sein. Die Wirtschaftskammer vertrat und vertritt alle Unternehmer, also auch die KMUs und die Einzelunternehmer, die heute ja noch mehr werden. Eine sozialpolitische Maßnahme, die für ein großes Unternehmen ohne weiteres verkraftbar ist, weil sich das eben im Gesetz der großen Zahl löst, kann für einen Kleinen, aber auch Mittleren unter Umständen nicht verkraftbar sein. Die Kammer hat im Gegensatz zur Industriellenvereinigung alle zu vertreten, d.h. wir mussten schauen, dass bei allen legislativen Projekten die Kleinen nicht unter die Räder kommen.

Abschließend darf ich Sie aufgrund Ihrer Lebenserfahrung um eine Bewertung der gegenwärtigen Situation vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise und der sich daran anschließenden Wirtschaftskrise fragen. Was bedeutet das für die Sozialversicherung in Österreich? Wie wird es weitergehen?

Herbert Reiger:
Ich habe die Bemühung der Regierung Schüssel um die Pensionsreformen von 2000, 2003 sowie 2004 durchaus verstanden und es bedauert, dass die damalige Regierung in ihr Konzept relativ viel Wasser gießen musste, um einen halbwegs tragfähigen Kompromiss zu erreichen. Und nun stelle ich fest, dass von diesem Kompromiss inzwischen weiteres abgebröckelt ist, sodass man sich fast fragen muss, warum die Regierung Schüssel dieses politische Risiko auf sich genommen hat, das sich ja auch in späteren Wahlen niedergeschlagen hat. Ich glaube, dass hier – Stichwort Hacklerregelung – ein realistisches Durchdenken der gesamten Situation notwendig ist. Dass das für alle Beteiligten schwer ist, verstehe ich schon. Das ändert aber nichts daran, dass man Verantwortung für die Zukunft hat und eben auch an die heute Jungen oder jene mittleren Alters denken muss, die einerseits das derzeitige System laufend finanzieren und andererseits, weil sie entsprechende Leistungen nicht mehr erwarten können, sich noch zusätzlich selber etwas aufbauen müssen.

Sehen Sie eine Gefährdung oder gar einen eskalierenden Zerfallsprozess des Generationenvertrages?

Herbert Reiger:
Noch nicht. Und zwar deshalb nicht, weil der durchschnittliche Bürger in all diesen Dingen vernünftig ist und sozial denkt. Dass jetzt irgendeine Eskalation zu erwarten wäre, glaube ich nicht. Es ist aber insgesamt die Entwicklung eher problematisch, eben deshalb sollte man allmählich vorkehren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2018