Der Autor:
Prof. Dr. Thilo Fehmel
lehrt seit 2016 "Sozialpolitik und soziale Arbeit" an der dualen Hochschule Gera-Eisenach. Forschungsschwerpunkte: Verhältnis von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Sozialrechtswandel und vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung.
KURZFASSUNG
„Arbeiten in der Wolke“ kann viel mehr umfassen als nur Crowdworking. Gemessen am möglichen Spektrum digitalisierter Arbeit behandelt daher der Beitrag mit seiner im Titel angesprochenen Fokussierung lediglich einen kleinen Ausschnitt. Eine solche Eingrenzung ist jedoch sinnvoll, wenn es darum gehen soll, problemzentriert einen Blick darauf zu werfen, in welcher Weise die Digitalisierung der Arbeitswelt Auswirkungen auf soziale Sicherungsansprüche und auf deren Finanzierung hat.
Den Blick so auszurichten heißt, nicht in erster Linie auf die Inhalte digitalisierter Arbeit zu schauen und nicht so sehr darauf, unter welchen sozialen Bedingungen diese digitale Arbeit erbracht wird. Vielmehr geht es im Beitrag bei der Betrachtung digitalisierter Arbeit vor allem um jene Aspekte, die für Fragen sozialer Sicherung relevant sind. Das sind im Wesentlichen formale vertragsrechtliche Bedingungen der Arbeit und der Leistungserbringung. Denn es sind v.a. diese formalen rechtlichen Bedingungen jedweder, also nicht nur digitalisierter Arbeit und Leistungserbringung, auf denen die Finanzierung wie auch der Gewährung von Sozialleistungen beruhen.
Stellt man die vertragsrechtlichen Bedingungen von Arbeit und Leistungserbringung und ihre Auswirkungen auf Bedingungen sozialer Sicherung in den Mittelpunkt der Betrachtungen, dann führt das recht zu der These: Crowdworking ist nichts Neues!
Verglichen mit dem deutschen System sozialer Sicherung hat sich das österr. Sozialsystem diesem Problem viel eher und viel gründlicher zugewandt. Es trifft zu, dass aufgrund frühzeitiger sozialpolitischer Strukturreformen heute in Österreich alle Erwerbsformen von der Sozialversicherung erfasst und abgesichert sind. Aus dem hohen Erfassungsgrad der österr. Sozialversicherung auf einen ebenso hohen Absicherungsgrad durch die von ihnen bereitgestellten Sozialleistungen zu schließen, wäre jedoch in dieser Pauschalität verfehlt. Vielmehr gibt es nach wie vor deutliche strukturelle Leerstellen; und das Phänomen Crowdworking verstärkt deren Wahrnehmbarkeit beträchtlich.
Normalarbeit als Bezugspunkt sozialer Sicherung
Ausgangspunkt der Einordnung von Crowdworking ist die spezifische sozialrechtliche Konstruktion: die des Normalarbeitsverhältnisses. Ein Beschäftigungsverhältnis gilt dann als ein Normalarbeitsverhältnis, wenn es auf einem Arbeitsvertrag zwischen einem weisungsgebundenen Arbeitnehmer und weisungsberechtigten Arbeitgeber beruht, wenn es darüber hinaus unbefristet und auf Dauer angelegt ist, und wenn die im Arbeitsvertrag spezifizierte Tätigkeit in Vollzeit sowie gemeinhin an einem klar definierten Ort ausgeübt wird. Zudem kennzeichnet ein Normalarbeitsverhältnis, dass die Arbeitszeit in Lage und Länge klar vorgegeben ist. Das Arbeitseinkommen, das mittels Normalarbeitsverhältnis erzielt wird, bezieht sich auf eine vorher vertraglich festgelegte erwartete Leistung auf Basis vermuteter Produktivität des Beschäftigten; die Festlegung des Entgeltes sieht also ab von tatsächlicher individueller Leistung. Und schließlich liegt das so bestimmte Einkommen auf einem Niveau, auf dem es für den Einkommensbezieher mindestens existenzsichernd ist, weshalb jedenfalls bezüglich der Einkommenserzielung auch keine Notwendigkeit zur Ausübung weiterer Erwerbstätigkeiten besteht. Darüber hinaus sind bei einem Normalarbeitsverhältnis Arbeitsleistung, Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitseinkommen üblicherweise standardisiert und diese Standardisierung ergibt sich aus arbeitsrechtlichen und kollektivvertraglichen Normen. All das zusammengenommen ermöglicht ein Normalarbeitsverhältnis im individuellen Lebensverlauf eine kontinuierliche, im Prinzip ununterbrochene Erwerbsbiografie, in der sich dann idealerweise auch karriereförmige Chancen auf Sicherung und Verbesserung des beruflichen Status und des Einkommensstatus ergeben.
In diesem Zusammenhang entscheidend ist nun der Umstand, dass ein solches Normalarbeitsverhältnis auch die allgemeine Basis für den Erwerb von Ansprüchen auf soziale Sicherung ist. Genauer: das soziale Leistungsrecht in Sozialsystemen wie in Österreich oder der BRD unterstellt, dass, wer Ansprüche auf SV-Leistungen geltend macht, zuvor in einem Normalarbeitsverhältnis tätig war oder es noch ist. Derart erwerbseinkommenszentrierte Sozialsysteme richten ihren Blick somit retrospektiv auf die Erwerbsbiografie der Versicherten; sie bilanzieren zum Zwecke der Leistungsberechnung Erwerbserfolge und bisherige Lebensverläufe.
Erkennbar ist dies an der Betonung zweier Prinzipien im Sozialleistungsrecht: Mit dem Anwartschaftsprinzip wird die Gewährung von SV-Leistungen zwingend an die Erbringung einer Vorleistung gekoppelt: an Beiträge. Dem Äquivalenzprinzip folgend steht zunächst die Höhe des individuellen Sozialversicherungsbeitrages in einer äquivalenten Höhe zum individuellen Lohneinkommen; und sodann stehen zu einem späteren Zeitpunkt auch die SV-Leistungen in einer definierten Äquivalenzrelation zu zuvor eingezahlten Beiträgen. Vor dem Hintergrund der sozialnormativen Leitidee, dass eine von einer Sozialversicherung ausgereichte Lohnersatzleistung mindestens existenzsichernd, häufig gar lebensstandardsichernd sein soll, ergibt sich aus der kombinierten Anwendung von Anwartschafts- und Äquivalenzprinzip schon logisch, dass das der Beitragszahlung zugrundeliegende Erwerbseinkommen deutlich höher als nur existenzsichernd sein und zudem kontinuierlich erzielt werden soll. In diesem Sinne ist das Normalarbeitsverhältnis eine arbeits- und sozialrechtliche Konstruktion. Für viele Beschäftigte gilt, dass diese mit ihrer individuellen Realität übereinstimmt.
Abweichungen von Normalarbeit
Beschäftigungsformen, die nicht den Annahmen des Normalarbeitsverhältnisses entsprechen, gelten als „atypische Beschäftigung“. In dieser Formulierung schwingt oft eine gewisse Prekaritätsvermutung mit: wer unter atypischen Bedingungen einer Erwerbstätigkeit nachgeht, unterliegt größeren Risiken puncto Arbeitsplatzsicherheit, der Einkommenshöhe und -stabilität, der Arbeitszeit, der Karrierechancen, der Standardisierung von Leistung und Gegenleistung usw. Keinesfalls ist jede atypische Beschäftigung prekär oder führt zu prekärer sozialer Absicherung. Denn infolge der Abgrenzung zu Normalarbeit werden dazu etwa auch sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit bzw. befristete Beschäftigung oder wenig standardisierte Tätigkeiten gezählt, die für sich genommen nicht zwangsläufig in eine problematische spätere Konstellation des Sozialleistungsbezugs münden. Auch werden unter „atypische Arbeit“ zahlreiche Erwerbsformen subsumiert, bei denen sich die erwähnte Prekarität als Vermutung aufdrängt. Dazu gehören zeitlich bzw. entgeltbezogen geringfügige Beschäftigung ohne Sozialversicherungspflicht ebenso wie etwa Zeit-, Leih-, Heim- und Abrufarbeit oder aber Erwerbstätigkeiten, die nicht mittels Arbeitsvertrag geregelt werden, sondern per Werk-, Honorarvertrag etc.
Angesichts dieser Vielfalt überrascht es nicht, dass bereits ein Drittel aller unselbständig Beschäftigten in Österreich dem Bereich atypischer Beschäftigung zuzuordnen sind. Hinzu kommt die nicht näher bekannte Zahl der z.B. hinsichtlich Arbeitszeit, Einkommen oder Beschäftigungskontinuität atypisch arbeitenden (solo-)selbständigen Erwerbstätigen. So betrachtet zeigt sich schnell, wie unangemessen die Rede von atypischer oder anormaler in Abgrenzung zu typischer bzw. normaler Beschäftigung heute geworden ist. Unter den Bedingungen heutiger Erwerbs- und Beschäftigungsheterogenität lässt sich eine konkret gegebene Erwerbsform nicht mehr entlang der Unterscheidung von normaler versus atypischer Beschäftigung zuordnen, sondern nur graduell bestimmen. Je weniger eine Erwerbstätigkeit den Normalitätsannahmen in einer oder mehreren der oben genannten Dimensionen entspricht, desto „atypischer“ ist sie. Die Notwendigkeit, bei Erwerbsformen nicht mehr kategorial zwischen „normal“ und „atypisch“ zu unterscheiden, sondern ihre vertragsrechtlichen Formen graduell zu bewerten, hat auch Konsequenzen für deren sozialrechtliche Bewertung.
Crowdworking als Ausdruck einer sich wandelnden Arbeitswelt
Das Neue an Crowdworking ist, dass es sich um eine Erwerbsform handelt, die eine neue Stufe der Dezentralisierung und Externalisierung von Arbeit und Wertschöpfung darstellt. Bei Crowdworking haben wir es mit der über online-Plattformen vermittelten Auftragsvergabe durch Auftraggeber (Crowdsourcer) zu tun und mit entsprechender Leistungserbringung durch die Auftragnehmer, die Crowdworker. Ausschreibungen sind häufig Mikro-Aufträge mit kleinem Volumen, oft werden auch größere Projekte und Aufträge in zahlreiche Kleinstaufträge gesplittet.
Wahrscheinlich kann man davon ausgehen, dass Crowdworking-Tätigkeiten nicht die einzigen Tätigkeiten sind, die die Crowdworker ausüben. Untersuchungen zufolge geht es beim Crowdworking überwiegend um Zusatz-Rollen neben anderen Rollen, etwa neben der Tätigkeit als regulär und sozialversicherungspflichtig Beschäftigter oder auch z.B. neben dem Studium, der Arbeitssuche, familiären Care-Tätigkeiten, während Erziehungszeiten u.ä. Das bedeutet auch, dass Crowdworking in der Regel nicht die Haupttätigkeit und damit auch nicht die Haupteinkommensquelle und schon gar nicht die einzige Einkommensquelle ist. Ein Einkommen aus Crowdworking ist in den meisten Fällen ein Zusatzeinkommen.
Crowdworking als sozialpolitische Herausforderung
Sozialrechtlich betrachtet ist Crowdworking nichts Neues. Es ist lediglich die jüngste Form der Entstandardisierung von Erwerbsarbeit. Damit stellen sich für den Bereich der sozialen Sicherung mit Blick auf Crowdworking die gleichen Fragen, die sich auch bei anderen Formen atypischer, nichtstandardisierter Arbeit stellen, bei denen mehrere Einkommen miteinander kombiniert werden, und bei denen gerade deshalb ein erwerbseinkommenszentriertes System sozialer Sicherung an die Grenzen seiner inneren Logik gerät. Die Möglichkeit individueller Einkommenskombinationen zieht rechtliche Fragen nach sich, die an zwei Kombinationsmöglichkeiten illustriert wird.
Crowdworking steht in drastischer Weise exemplarisch für die Digitalisierung der Arbeitswelt und für Entwicklungen im Feld der Erwerbstätigkeit. Viele Entwicklungen sind begrüßenswert. Hingewiesen sei darauf, dass die Digitalisierung völlig neue Zugangsmöglichkeiten zu Arbeit für Personen schafft, die sonst vom Arbeitsmarkt exkludiert wären oder auch darauf, dass sich mit der Digitalisierung der Arbeit neue Autonomiespielräume eröffnen können und dass ebenso neue Arrangements und Flexibilitätsformen bezüglich der work-life-balance erkennbar werden. Andere Entwicklungen sind aus sozialnormativer Sicht eher besorgniserregend und stimmen nachdenklich: etwa Fragen zu Arbeitsbedingungen und zum Arbeitsschutz, zu den Fragen der Sicherung von Professionalitäts- und Qualitätsstandards und nicht zuletzt natürlich auch Fragen der Bezahlung im Kontext von Crowdworking.
Der Trend der Digitalisierung von Arbeit ist unumkehrbar. Im Zuge dieses Wandels ändert sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Bewertung von Arbeit insgesamt. Konfrontiert mit einer Arbeitswelt mit abnehmender Verbreitung von Normalarbeit stehen Systeme sozialer Sicherung vor der Herausforderung, sich auf diesen Wandel von Arbeit und Einkommen einzustellen. Crowdworking schafft insofern kein gänzlich neues sozialpolitisches Problem. Sie verweist vielmehr auf Debatten, die ohnehin schon geführt werden, weil es ähnlich gelagerte Probleme der Kombination von Arbeits- und Sozialeinkommen ja schon seit geraumer Zeit gibt. Die Ausbreitung von Crowdworking unterstreicht nur einmal mehr die Notwendigkeit, dass die Institutionen der sozialen Sicherung der Verbreitung von Einkommenskombinationen angemessen Rechnung tragen.