Der Autor:
Mag. Jürgen Radics
ist als Mitarbeiter im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zuständig für die Rechtsangelegenheiten im Bereich der Krankenversicherung der Unselbständigen.
KURZFASSUNG
Einleitung
Der österr. Verfassungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 5.10.2016 mit der Frage der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Kostenübernahme von Arzneimitteln für die Raucherentwöhnung beschäftigt. Darin setzt sich der VfGH einerseits mit der Frage der Grenzen der Krankenbehandlung auseinander und bewertet andererseits die Liste der nicht erstattungsfähigen Arzneimittelkategorien als Verordnung. Der Fachbeitrag setzt sich mit diesem Erkenntnis auseinander und beschreibt die wesentlichen Erwägungen des VfGH.
Ausgangssachverhalt
Mit einem auf das B-VG gestützten Antrag begehrte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Verordnungsbestimmung Arzneimittelkategorie 11 (Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch) in der Anlage gemäß § 1 Abs. 2 der Liste nicht erstattungsfähiger Arzneimittelkategorien gemäß ASVG als gesetzwidrig aufzuheben.
Dem Antrag lag folgender Sachverhalt zugrunde: Mit Bescheid des Hauptverbandes der österr. Sozialversicherungsträger vom 4.9.2014 wurde der Antrag der vor dem BVwG beschwerdeführenden Partei auf Aufnahme der Arzneispezialität „Champix FTBL, 0,5 mg“ in den Erstattungskodex gemäß § 20 Abs. 3 VO-EKO abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass das zugelassene Anwendungsgebiet von „Champix FTBL, 0,5 mg“ in die Kategorie 11 („Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch“) der Liste nicht erstattungsfähiger Arzneimittelkategorien gemäß § 351c Abs. 2 ASVG falle. Die Stellungnahme des Unternehmens enthalte keine nachvollziehbare Begründung dafür, warum eine Arzneispezialität die zur „Raucherentwöhnung bei Erwachsenen“ zugelassen sei, nicht „zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch“ diene. Die Liste nicht erstattungsfähiger Arzneimittelkategorien stehe im Verordnungsrang und sei der Entscheidung zugrunde zu legen. Gegen diesen Bescheid wurde Beschwerde an das BVwG erhoben.
Vorbringen der Parteien
Das Bundesverwaltungsgericht argumentierte seinen Antrag beim VfGH folgend: Nach Meinung des BVwG stellt die Liste nach § 351c Abs. 2 ASVG eine Verordnung im Sinn des B-VG dar, da sie von einer Körperschaft öffentlichen Rechts mit der Befugnis, Verordnung zu erlassen, stammt und durch die Veröffentlichung im Internet unter www.avsv.at Außenwirksamkeit erlangt hat. Inhaltlich hegte das BVwG aus folgenden Gründen Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der Arzneimittelkategorie 11 „Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch“:
Die WHO erfasst in ihrem Diagnoseklassifikationssystem ICD 10 unter psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen neben psychischen und Verhaltensstörungen durch andere Substanzen wie etwa Alkohol auch solche, die durch den Konsum von Tabak hervorgerufen werden als behandlungsbedürftige Krankheiten. Zu diesen Störungen gehört unter anderem Tabakabhängigkeit als solche – und somit ohne das Vorliegen von durch Tabakkonsum induzierten Folgeerkrankungen (z.B. COPD). Nach dieser Leitlinie ist ‚Tabakabhängigkeit‘ dann zu diagnostizieren, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren:
Starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Konsummenge.
Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme gleicher oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen der psychotropen Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich.
Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen, wie z.B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Konsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen. Es sollte festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist.
Zusammengefasst vertrat das BVwG die Meinung, dass der in der Anlage der Liste nicht erstattungsfähiger Arzneimittelkategorien vorgenommene kategorische Ausschluss von ‚Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch‘, ohne eine Differenzierung zwischen dem noch nicht krankheitsschädigenden Tabakkonsum einerseits und der nikotinassoziierten Tabakabhängigkeit im Sinne diagnostischer Kriterien des ICD-10 andererseits vorzunehmen, mit den Anforderungen des § 351c Abs. 2 ASVG an eine solche Liste nicht vereinbar ist. ‚Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch‘ sind bei Vorliegen eines schweren Grades von Tabakabhängigkeit sehr wohl zur Behandlung dieser Krankheit geeignet.
Der Hauptverband trat diesem Vorbringen mit folgenden Argumenten entgegen:
1. Da die Liste nach § 351c Abs. 2 ASVG nur Arzneimittelkategorien festlegt, die im Allgemeinen nicht zur Krankenbehandlung geeignet sind, entfaltet diese Liste keine Bindungswirkung wie der Erstattungskodex oder die RöV. Sie ist daher rechtlich nicht als Verordnung zu qualifizieren.
2. Als Krankheit gilt gemäß ASVG ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Krankenbehandlung notwendig macht. Sie muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch Behandlung sollen Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit für lebenswichtige persönliche Bedürfnisse zu sorgen, möglichst wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Der Anspruch auf Krankenbehandlung hängt daher nicht alleine von medizinischen Kriterien ab. Die Kosten einer Krankenbehandlung sollen nur dann getragen werden, wenn medizinisch eine Krankheit vorliegt, eine Krankenbehandlung medizinisch erforderlich ist und die Ziele der Krankenbehandlung erreicht werden.
Es bleibt daher festzuhalten, dass anders als die Ausführungen des BVwG vermuten lassen, der Krankheitsbegriff des Sozialversicherungsrechts ein eigenständiger ist, der sich nicht mit dem medizinischen Krankheitsbegriff oder jenem der WHO deckt. Rauchen an sich stellt mit Sicherheit nicht einmal einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand dar. Die Ausführungen des BVwG zum gesellschaftlichen Wandel beim Thema ‚Rauchen‘, der sich u.a. in Aktionen zur Einschränkung des Rauchens zeige, gehen daher an der Sache vorbei. Es handelt sich um gesundheitspolitische Maßnahmen, die im Rahmen der Prävention durchaus sinnvoll sind, aber nichts mit Krankenbehandlung im Sinne des Sozialversicherungsrechts zu tun haben.
Entscheidend für die Beurteilung ist die Behandlungsbedürftigkeit. Diese besteht nur, wenn ein gesellschaftliches Grundverständnis besteht, dass der regelwidrige Zustand auf Kosten der Solidargemeinschaft behandelt werden soll. Anders als Alkohol- oder Drogenkonsum beeinträchtigt der Nikotinkonsum unmittelbar weder Arbeitsfähigkeit noch die Fähigkeit für die persönlichen Bedürfnisse zu sorgen. Tabakrauchkonsum kann allerdings mittelbar die Gesundheit gefährden und zu Folgeerkrankungen, wie z.B. Lungenkrebs, führen. Solange sich aber diese Krankheit noch nicht manifestiert hat, besteht kein Anspruch auf Krankenbehandlung.
Auch würde die Verschreibung eines Arzneimittels zur Raucherentwöhnung gar kein zweckentsprechendes Mittel im Sinn des ASVG darstellen, um Nikotinabhängigkeit oder eine allfällige Folgeerkrankung – z.B. Lungenkrebs – zu behandeln. Es geht nicht wie bei einem Mittel der Krankenbehandlung um die Heilung einer Krankheit oder die Verbesserung des Leidenszustandes, sondern nur um eine Unterstützung des Willens einer Person, die mit dem Rauchen aufhören möchte. Prophylaktische Behandlungen sind nach der Rechtsprechung des OGH grundsätzlich auch dann nicht als Krankenbehandlung zu qualifizieren, wenn sie der Reduktion des Risikos von Folgeerkrankungen dienen. Durch die Sozialversicherung gesetzte Maßnahmen wie z.B. Raucherberatung mit dem Ziel der Entwöhnung (NÖGKK-Rauchertelefon) oder die ambulanten sowie stationären Raucherentwöhnungsangebote der KV-Träger werden daher im Rahmen der Präventionsleistungen gemäß § 154b ASVG, und nicht als Krankenbehandlung angeboten.
Rechtliche Beurteilung des Verfassungsgerichtshofs
Die Liste gem. § 351c Abs. 2 ASVG wird vom VfGH als Verordnung qualifiziert, weil
der Hauptverband als die Institution, der die Liste erlassen hat, ein Verwaltungsorgan ist, dass auch mit der Wahrnehmung von Hoheitsaufgaben betraut ist,
die Liste durch ihre Veröffentlichung in der amtlichen Verlautbarung der österr. Sozialversicherung im Internet auch ein solches Maß an Publizität erlangt hat, dass sie damit Eingang in die Rechtsordnung gefunden hat,
die angefochtenen Vorschriften der Liste gemäß § 351c Abs. 2 ASVG auch normative Festlegungen enthalten. Durch die angefochtene Bestimmung wird der Entscheidungsspielraum der Behörde bei einem auf § 351c Abs. 1 ASVG gestützten Antrag insoweit erheblich eingeschränkt, als die unter die Kategorie 11 der Liste fallenden Arzneimittel allgemein nicht zur Krankenbehandlung im Sinne des § 133 Abs. 2 ASVG geeignet sind und daher nicht in den EKO aufgenommen werden dürfen.
Soweit das antragstellende Gericht beantragt, die Arzneimittelkategorie 11 der Liste nicht erstattungsfähiger Arzneimittelkategorien aufzuheben, weil der „kategorische Ausschluss“ von Arzneimitteln zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch, ohne eine Differenzierung zwischen dem noch nicht schädigenden Tabakkonsum einerseits und der nikotinassoziierten Tabakabhängigkeit andererseits vorzunehmen, mit den Anforderungen des § 351c Abs. 2 ASVG an eine solche Liste nicht vereinbar sei, so werden Bedenken gegen die Übereinstimmung der Verordnung mit ihrer gesetzlichen Grundlage erhoben. Diese Bedenken treffen aber nicht zu, denn Arzneimittel zur Entwöhnung von Nikotin sind jedenfalls allgemein nicht zur Krankenbehandlung im Sinne des § 133 Abs. 2 ASVG geeignet.
Nach dem sozialversicherungsrechtlichen Verständnis ist Krankheit ein „Körper- oder Geisteszustand, der Krankenbehandlung notwendig macht“. Daraus ergibt sich, dass ein nur nach medizinischen Kriterien als Krankheit verstandener Körper- oder Geisteszustand nicht ausreicht, um Anspruch auf Krankenbehandlung auszulösen; es muss auch die Notwendigkeit gegeben sein, diese Krankheit zu behandeln.
Damit ist der sozialversicherungsrechtliche Krankheitsbegriff auch enger als der Krankheitsbegriff der WHO. Eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn liegt dann vor, wenn das Krankenversicherungsrecht eine entsprechende Leistung zur Behebung dieses Zustandes vorsieht und der Zustand unter Bedachtnahme auf die Ziele der Krankenbehandlung und im Hinblick auf ihre Notwendigkeit nach einem sozialen Konsens auch behandelt werden soll. Nach den in der Rechtsprechung und Lehre herausgearbeiteten Kriterien beeinflusst daher auch das gesellschaftliche Grundverständnis das krankenversicherungsrechtliche Leistungsrecht.
Maßnahmen wie die Regulierung des Körpergewichtes, die Verbesserung des Haarwuchses aber auch die Raucherentwöhnung werden der Eigenverantwortung und nicht der Verantwortung der Versichertengemeinschaft zugerechnet. Es kann als notorisch gelten, dass im Regelfall die Überwindung der Nikotingewöhnung auch ohne Zuhilfenahme ärztlicher Hilfe oder von Arzneimitteln gelingt.
Schließlich ist das antragstellende Gericht aber auch darauf hinzuweisen, dass die Zugehörigkeit eines Arzneimittels zur nicht erstattungsfähigen Arzneimittelkategorie der Abgabe eines in eine solche Kategorie fallenden Arzneimittels auf Kosten des Krankenversicherungsträgers in jenen Fällen nicht entgegensteht, in denen die Voraussetzungen der §§ 120 und 133 ASVG vorliegen. Hat die Nikotingewöhnung im Einzelfall einen solchen Schweregrad erreicht, dass das Vorliegen einer Erkrankung im Sinne der §§ 120 in Verbindung mit 133 Abs. 2 ASVG erwiesen ist, so kann das Arzneimittel auf Kosten des Krankenversicherungsträgers abgegeben werden.
Bewertung des Erkenntnisses
Das gegenständliche Erkenntnis schafft rechtliche Klarheit in zwei Punkten: Erstens wird klargestellt, dass die Liste gemäß § 351c Abs. 2 ASVG als Verordnung zu qualifizieren ist. Und zweitens bringt das Erkenntnis eine klare Abgrenzung der Leistungspflicht im Hinblick auf Mittel zur Raucherentwöhnung.
Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen im Hinblick auf die Frage, welche Arzneimittel in den Erstattungskodex (EKO) aufzunehmen sind. Die Bedeutung des Erkenntnisses besteht jedoch darin, dass der VfGH in einem weiteren Bereich eine klare Abgrenzung der Leistungspflicht für Heilmittel und damit eine Klarstellung der Grenzen der Krankenbehandlung trifft.
Durch das gegenständliche Erkenntnis des VfGH wird klargestellt, dass Arzneimittel zur Entwöhnung vom Nikotingebrauch im Allgemeinen nicht zur Krankenbehandlung geeignet sind. Diese Beurteilung beruht auf folgender Überlegung: Für das Vorliegen einer Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn reicht es nicht, dass ein nur nach medizin. Kriterien als Krankheit verstandener Körper- oder Geisteszustand vorliegt, um einen Krankenbehandlungsanspruch nach dem ASVG auszulösen, es muss auch eine Notwendigkeit gegeben sein, diese Krankheit zu behandeln.
Nach Meinung des VfGH, liegt eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn nur dann vor, wenn das Krankenversicherungsrecht eine entsprechende Leistung zur Behebung dieses Zustandes vorsieht und der Zustand unter Bedachtnahme auf die Ziele der Krankenbehandlung und im Hinblick auf ihre Notwendigkeit nach einem sozialen Konsens auch behandelt werden soll.
Der VfGH zieht zur Frage der Leistungspflicht für eine medikamentöse Raucherentwöhnung eine grundsätzliche Grenze zwischen der Eigenverantwortung der versicherten Personen und der Verantwortung der Versichertengemeinschaft. Im Fall der Raucherentwöhnung begründet er die Zurechnung zur Eigenverantwortung damit, dass im Regelfall die erfolgreiche Überwindung der Nikotingewöhnung auch ohne Zuhilfenahme ärztlicher Hilfe oder von Arzneimitteln gelingt. Der VfGH knüpft damit an seine Judikaturlinie zur Notwendigkeit des Bestehens eines Konsens‘ zur Behandlung des Zustands auf Kosten der Solidargemeinschaft an.