Der Autor:
Dr. Elias Felten
ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht an den Universitäten Linz und Salzburg. Neben dem österreichischen Sozialrecht beschäftigt er sich schwerpunktmäßig vor allem mit dem Recht der sozialen Sicherheit der EU.
KURZFASSUNG
Das Sozialversicherungsrecht ist im Fokus der gesellschaftspolitischen Debatte angekommen. Das gilt nicht nur für die nationale, sondern auch für die europäische Ebene. Im Kern geht es um die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme. Diese gelangen in Anbetracht knapper Budgets und angespannter Wirtschaftslage unter Druck. Denn hohe Sozialausgaben werden meist als wirtschaftlicher Hemmschuh angesehen.
Besonders vehement wird diese Diskussion im Vereinigten Königreich geführt. Tatsächlich hat Großbritannien seinen Verbleib in der EU von einem Kurswechsel der europäischen Sozialpolitik abhängig gemacht. In Anbetracht dessen, dass in den meisten Mitgliedstaaten der EU vergleichbare Debatten geführt werden, überrascht es nur wenig, dass die europäischen Partner zu weitreichenden Konzessionen bereit waren – wie man heute weiß, vergeblich. Die sog. „Schlussfolgerungen“ des Europäischen Rates vom Februar 2016 widmen dem Thema „Sozialleistungen und Freizügigkeit“ ein eigenes Kapitel. Quintessenz: die Personenfreizügigkeit soll keinen unbeschränkten Zugang (mehr) zu Sozialleistungen eröffnen. Zum einen sollen für bestimmte Sozialleistungen Bedingungen ermöglicht werden, die sicherstellen, dass „ein tatsächlicher und effektiver Grad der Bindung der betreffenden Person an den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats besteht“. Das gilt v.a. für Arbeitnehmer. Zum anderen sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, „Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.“ Diese Klarstellung zielt primär auf nicht Erwerbstätige ab. Neben diesen generellen Schlussfolgerungen wurde auch eine Änderung des Sekundärrechts in Gestalt der VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Aussicht gestellt. So sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten „im Hinblick auf die Ausfuhr von Leistungen für Kinder in einen anderen als den Mitgliedstaat, in dem der Arbeitnehmer wohnt, die Höhe dieser Leistungen an die Bedingungen in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind wohnt, zu koppeln.“ Dieser Satz bedeutet, dass Mitgliedstaaten das Recht bekommen sollen, im Falle des Familienleistungsexports die Leistungshöhe zu „indexieren“; also von der Kaufkraft im Wohnsitzstaat des Kindes abhängig zu machen.
Die Realisierung dieser Vorhaben war allerdings nur für den Fall in Aussicht gestellt, dass sich die Bevölkerung des Vereinigten Königsreichs für einen Verbleib in der EU entscheidet. Inzwischen wissen wir, dass eine Mehrheit für den „Brexit“ votiert hat. Damit ist die Diskussion um das Verhältnis von Freizügigkeit und Sozialleistungen nicht zum Erliegen gekommen. Zuletzt haben Teile der österr. Bundesregierung die Forderung nach einer Indexierung von Familienleistungen wieder aufgegriffen und ein entsprechendes Ansuchen an die EU-Kommission gestellt. Die Mitgliedstaaten sollen die Möglichkeit haben, Familienleistungen beim Export zu kürzen, wenn die Lebenshaltungskosten im Wohnsitzstaat der Kinder niedriger als in Österreich sind.
Dieses Beispiel zeigt, dass der Export von Sozialleistungen ein hoch aktuelles und politisch brisantes Thema ist. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, die rechtlichen Rahmenbedingungen des Leistungsexports näher zu beleuchten. Dazu werden in einem ersten Schritt die rechtlichen Grundlagen des unionsrechtlichen Exportgebots und in weiterer Folge die aktuelle Judikatur zu diesem Themenkomplex einer Analyse unterzogen. Daraus werden abschließend Schlussfolgerungen für das österreichische Leistungsrecht gezogen.
Resümee:
Der Export von Sozialleistungen ist ein Grundsatz des Unionsrechts. Er hat seine Wurzeln unmittelbar im Primärrecht. Gegenstand des sog. „Exportgebotes“ ist nur vordergründig die Überweisung von Geldleistungen ins EU-Ausland. Im Kern geht es um Gleichbehandlung, indem nationale Wohnsitzklauseln für unanwendbar erklärt werden. Das hat enorme praktische Auswirkungen. Denn sowohl nationales Recht als auch das Sekundärrecht der Union sind am Maßstab des Primärrechts zu messen. Dies hat zur Konsequenz, dass nationale wie auch sekundärrechtliche Wohnsitzklauseln jeweils auf ihre sachliche Rechtfertigung zu prüfen sind, da sie nach der Judikatur des EuGH grundsätzlich eine Diskriminierung von Unionsbürgern bewirken. Im Ergebnis wird dadurch der sozialpolitische Spielraum des Gesetzgebers sehr eingeschränkt. Insbesondere sind einer „Renationalisierung“ der Sozialsysteme konkrete Grenzen gesetzt. Das gilt freilich nur, solange der EuGH an seiner Judikatur festhält. Ob das auch in Zukunft der Fall sein wird, ist offen. Denn der politische Druck auf eine Änderung des Verhältnisses von Freizügigkeit und Sozialleistungen wird immer größer. Das haben die Diskussionen im Vorfeld des „Brexit“ klar gezeigt. Inzwischen hat auch der EuGH darauf reagiert, indem er Beschränkungen beim Zugang zu Sozialleistungen für Unionsbürger, selbst wenn sie diskriminierende Wirkung entfalten, billigt. Ob der EuGH diese „Trendwende“ auch beim Export vollziehen wird oder diesen Grundpfeiler des europäischen Sozialrechts als Reaktion darauf sogar noch stärken wird, bleibt abzuwarten.